Berlinale 2016 – Computerviren, Familien und andere Katastrophen
Cyberkrieg im Wettbewerb der 66. Berlinale. Der Oscar prämierte Dokumentarfilmer Alex Gibney (“Taxi to the Dark Side”) widmet sich in “Zero Days” Stuxnet, einem sich selbst replizierenden Computervirus, das im Juni 2010 erstmals von einem Entwickler in Weißrussland entdeckt wurde und IT-Sicherheitsexperten weltweit in Alarmbereitschaft versetzte. Von offizieller Seite nie bestätigt, wurde die Schadsoftware offenbar von den Regierungen der Vereinigten Staaten und Israels in Auftrag gegeben, um gezielt das iranische Atomprogramm anzugreifen. Das hochkomplexe Sabotageprogramm infizierte nicht nur das eigentliche Ziel, sondern verbreitete sich unkontrolliert. Stuxnet gilt aufgrund seiner Komplexität und der gezielten Programmierung, Steuerungssysteme von Industrieanlagen zu sabotieren, bislang als einzigartig.
Gibney spricht mit Regierungsverantwortlichen und Computerexperten. Stück für Stück entschlüsselt er mit seinen Interviewpartnern Geschichte und Zielrichtung der Cyberwaffe, die im Falle eines Angriffs dem Ziel keine Zeit lässt (Zero Days), eine Verteidigung hochzufahren, geschweige denn vorzubereiten. Die Bedrohung eines Cyberkriegs ist real. Lebenswichtige Infrastruktur könnte jederzeit Ziel eines Angriffs werden, mit unabsehbaren Folgen beispielsweise für die Bevölkerung eines Landes. Die US-Regierung hat ein milliardenschweres Cyber–Militärprogramm aufgelegt. So lange aber alle Informationen der Geheimhaltung unterliegen, können die Regeln der (internationalen) Kriegsführung nicht verhandelt werden. Als Folge von Stuxnet ließ auch der Iran durch gezielte Attacken auf US–Banken und eine Ölförderanlage die Muskeln spielen. Schnörkellos und hochspannend fesselt „Zero Days“ bis zur letzten Minute und führt eindrucksvoll die Stärken des Genres vor Augen.
Liebe zu dritt
Dänemark in den 1970er Jahren – Architekturdozent Erik (Ulrich Thomsen) erbt die Villa seines toten Vaters im noblen Hellerup am Stadtrand von Kopenhagen. Er würde das große Haus gerne direkt zu Geld machen, seine Gattin, die bekannte TV-Nachrichtensprecherin Anna (Trine Dyrholm) hat andere Pläne. Um dem Familienleben neuen Schwung zu geben, möchte sie in dem Gemäuer eine WG gründen. Tochter Freja (Martha Sofie Wallstrøm Hansen) wird gar nicht erst gefragt. Herzlich willkommen in „Kollektivet“ (The Commune / Die Kommune), der Kommune vom dänischen Regiestar und Dogma–95 Mitbegründer Thomas Vinterberg (“Das Fest”, “Am grünen Rand der Welt”). Nach “Submarino” 2010 tritt er bei der 66. Berlinale erneut mit einem Beitrag im Wettbewerb an.
Die Föhnwellen sitzen, die Gemeinschaft wächst. Ab sofort wird alles ganz basisdemokratisch in die Gruppe eingebracht. Erik, der im Zorn gerne mal ohnmächtig wird, ist das irgendwann zu hyggelig. Er zieht die Zweisamkeit mit seiner jungen Studentin Emma (Helene Reingaard Neumann) vor. Als die Beziehung öffentlich wird und Emma ebenfalls Teil der Kommune wird, zerbröselt das fragile Gleichgewicht. Anna stößt an die Grenzen ihrer Liberalität. Trine Dyrholm gibt eine großartig scheiternde und zerbrechende Karrierefrau. Viel Emo-Gelaber und fast nix dahinter – die Gemeinschaft kann sie nicht auffangen. Die klug beobachtende 14-jährige Freja muss ohne Zorn die beste Lösung für alle suchen und finden, und sich selbst vergisst sie darüber auch nicht.
Vinterberg ist ein liebevoller, von eigenen Kindheitserinnerungen inspirierter Film gelungen. In hervorragend verwaschener 70er–Jahre –Optik lässt er Teile seiner Familiengeschichte noch einmal Revue passieren. Ob die Internationale Jury auch angetan ist, erfahren wir am Samstag.
Bodenstation an Monsieur Mars!
Philippe Mars (François Damiens) ist ein wirklich guter Mensch, liebevoller Vater, freundlicher Ex–Gatte, hilfsbereiter Kollege und verständnisvoller Bruder – nur leider machen es ihm seine Mitmenschen nicht besonders leicht. Kollege Jérôme (Vincent Macaigne) ist ein aggressiver Psychopath, die Kinder verachten ihn und seine Schwester fertigt großformatige Gemälde der verstorbenen Eltern – nackt, mit riesigen Geschlechtsteilen.
Nachts schwebt Monsieur Mars in seinen Träumen in einem Raumanzug schwerelos durch Raum und Zeit. Durch ein Missgeschick des herrlich wahnsinnigen Jérôme verliert er ein Ohr, in seiner Wohnung leben Frösche und unter seinem Bett lagert Sprengstoff. Immer wenn Philippe Mars alles, aber auch wirklich alles zuviel wird, erscheinen ihm seine glücklichen toten Eltern Hand in Hand.
Dominik Moll hat in „Des nouvelles de la planète Mars“ (News from planet Mars) viele wunderbare Neuigkeiten von einem leicht aus seiner Umlaufbahn geratenen Philippe Mars. Leider im Wettbewerb nur außer Konkurrenz, trotzdem ein großer Spaß.
- Berlinale 2016 – Boys, Boys, Boys
- Berlinale 2016 – Seltsam, im Nebel zu wandern