Berlinale 2012 – Mads Mikkelsen verliert den Kopf

Fast ist schon wieder alles vorbei bei den 62. Internationalen Filmfestspielen Berlin. Am wettbewerbsreichen Donnerstag marschieren wir durch den Wald, überwintern in der Polarnacht und Mads Mikkelsen wird einen Kopf kürzer gemacht. Der achte Berlinale-Tag endet mit einer schwachen Urinbilanz.

In einem ungarischen Dorf wurde eine Roma-Familie ermordet. Die Täter sind entkommen. Ausgehend von einer realen Mordserie, der in Ungarn in wenig mehr als einem Jahr acht Menschen zum Opfer fielen, schildert der Filmemacher Bence Fliegauf in „Csak a szél“ (Just The Wind) die Stimmung, aus der Gewalt gegen Minderheiten entsteht. Die Kamera heftet sich eng an die Fersen der Protagonisten, zu eng. Nicht jeder Waldweg muss mehrfach beschritten werden. Nicht jeder Zweig muss von der Handkamera gewürdigt werden. Inszenierte Bedeutungsschwere nimmt mehr, als sie nützt. Wir erleben einen Tag im Leben einer Familie, gefühlt in Echtzeit. Das ist selten gut. „24h Berlin“ hat man sich gerade deshalb stundenlang angesehen, weil es nicht zäh war, dem Leben zuzusehen.

Angst, Gewalt und Rassismus sind allgegenwärtig und quälend. Kameraführung und Erzählweise sind es auch. Durch den Mangel an Erzählstruktur und fehlende Präzision nimmt Bence Fliegauf seinem Wettbewerbsbeitrag „Csak a szél“ (Just The Wind) Ausdruckskraft, reduziert sein Thema und verschenkt seine ausgezeichneten Darsteller. Eine Antwort auf die Frage: Wie viel Zeit benötigt meine Geschichte wirklich, um erzählt und verstanden zu werden, bleibt Fliegauf leider über weite Teile schuldig. Am Ende findet der Film die Konsequenz, die er über 90 Minuten vermissen lässt.

Zieht euch warm an

Matthias Glasners „Gnade“ (Mercy) mit Jürgen Vogel und Birgit Minichmayr in den Hauptrollen ist ein weiterer deutscher Film im Wettbewerb und, verglichen mit „Barbara“ und „Was bleibt“, der stärkste deutsche Streifen im Rennen um einen der Bären.

Niels und Maria ziehen gemeinsam mit ihrem Sohn nach Norwegen, in die Dunkelheit und Kälte der Polarnacht. Das geregelte Leben spielt sich in der neuen Heimat schnell ein. Alles ändert sich, als Maria nach einer Nachtschicht im Hospiz einen Autounfall hat und Fahrerflucht begeht.

Glasner weiß die Landschaft und die in dieser lebensfeindlichen Umgebung verwurzelten Menschen für sich zu nutzen, ohne sie zu verkitschen. Finsternis, Eis und Sturm machen einen frösteln im Kinosessel. Hier ist es noch wichtiger als an anderen Orten, Teil der Gemeinschaft zu sein. Jeder kennt jeden, alles hängt miteinander zusammen. Eine Sichtweise, die altmodisch anmutet, in ihrer Verdichtung aber wahrhaftig wirkt und nicht beengend.

Jeder in der Familie lädt Schuld auf sich, aber keine wiegt schwerer als Marias. So schwer, dass ein Bekenntnis unmöglich erscheint. Marias Schuld wird sich auf das Leben aller Familienmitglieder auswirken. Niels und Sohn Markus werden der Mann und der Sohn von sein. Niels und Markus versuchen sich für ihr Fehlverhalten zu entschuldigen und nehmen die Zurückweisung in Kauf. Jeder macht sich schuldig – wer hat Gnade verdient? Wer kann uns Gnade gewähren? Ist Vergebung möglich? Glasner entlässt uns hoffnungsvoll aus dem Kino.

Eine dänische Liebesgeschichte

Die Geschichte vom deutschen Leibarzt Johann Friedrich Struensee am Hofe König Christian VII. ist Geschichte, historisch verbürgt und literarisch bearbeitet unter anderem im Bestseller „Der Besuch des Leibarztes“ von Per Olov Enquist nachzulesen.

Johann Friedrich Struensee (Mads Mikkelsen), Armenarzt aus Altona, wird im dänischen Wettbewerbsbeitrag „En Kongelig Affære“ (A Royal Affair  / Die Königin und der Leibarzt) von Nikolaj Arcel mit König Christian VII. (Mikkel Boe Følsgaard ) Europa bereisen, Dänemark reformieren, sich in Königin Caroline Mathilde (Alicia Vikander ) verlieben, mit ihr ein Kind zeugen und seinen Kopf verlieren.

Im Gegensatz zu dem in die eigenen Kostüme und Kulissen verliebten Eröffnungsfilm und Wettbewerbsbeitrag (die Älteren unter uns erinnern sich) „Les Adieux à la Reine“ sind bei „En Kongelig Affære“ Kleider, Perücken und Räume Mittel zum Zweck. Nikolaj Arcel fühlt sich seiner Geschichte verpflichtet und vertraut auf seine Darsteller, allen voran  Mads Mikkelsen und Alicia Vikander. Kitsch und Pathos werden weitestgehend vermieden. Wir sehen den Aufstieg und Fall eines Armenarztes, der Großes bewegen wollte, der sich von der Macht blenden ließ und am Ende alles verliert.

Die sterblichen Überreste von Johann Friedrich Struensee sind in der St. Petri-Kirche, gegenüber der deutschen Schule in Kopenhagen beigesetzt http://www.sankt-petri.dk/, aber das ist eine andere Geschichte.

„En Kongelig Affære“ ist gleichzeitig der letzte Berlinale-Film für mich in diesem Jahr. Am Freitag und Samstag müsst ihr alleine ins Kino. Acht Tage bei Wasser, trockenen Brezeln, Kaffee und Halspastillen liegen hinter mir. Jetzt muss es irgendwie weitergehn – ein Leben ohne 9-Uhr-Frühfilm scheint möglich, aber sinnlos.

Am Samstag gibt’s noch Bären, mögen die Besten gewinnen. Folgende Filme, Darsteller, Drehbücher, Kamera etc. seien der Internationalen Jury um Mike Leigh an dieser Stelle noch einmal ans Herz gelegt:

„Cesare deve morire“ von Paolo & Vittorio Taviani

„Metéora“ von Spiros Stathoulopoulos

„Jayne Mansfield’s Car“ von Billy Bob Thornton

„Was bleibt“ von Hans-Christian Schmid

„Gnade“ von Matthias Glasner

… und (warum auch nicht) „En Kongelig Affære“ von Nikolaj Arcel

 

Nachtrag – Urinbilanz des Tages schwach: Einmal Verrichtung der Notdurft im Wald.

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