Berlinale 2015 – Wirf Gold und Silber über mich
Der Tag, als der Regen kam: Durch Eis und Schnee sind wir gezogen, Wüsten haben wir durchquert. Der Wind hat Staub aufgewirbelt und unsere Blicke vernebelt. Hände und Füße sind uns abgefroren, Tiere sind verdurstet, der Sturm hat das Wehklagen orientierungsloser Männer hinweggefegt. Der Donnerstag entführt uns am Morgen in den Dschungel. Tropischer Regen und Schlammbäder erwarten uns.
Cha và con và (Big Father, Small Father and Other Stories / Unsere sonnigen Tage) von Phan Dang Di eröffnet den neunten Berlinale Tag. Der vietnamesische Filmemacher erzählt von Fotografiestudent Vu und seinen Freunden. Undurchdringlich wie der Dschungel aus dem Vu kommt, ist die Gemengelage der Menschen, die hier zusammenkommen, sich begehren, heiraten sollen, vor Gangstern fliehen müssen, Sex haben, schwanger werden, durch die Nacht tanzen, zusammengeschlagen werden und sich sterilisieren lassen. Koitus im Schlamm und Gerangel auf dem Hausboot. Vu begehrt Thang, der will Bartänzerin Van. Vus Vater will den Sohn mit einem Mädchen aus seinem Dorf verheiraten, schwängert sie dann aber selbst. Naturmetaphorik und glitzernde Halbwelt. Der Film ist ein langer (un-)ruhiger, ermüdender Fluss, der ziellos vor sich hintreibt.
Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen
»Einem reichen Manne, dem wurde seine Frau krank, und als sie fühlte, dass ihr Ende herankam, rief sie ihr einziges Töchterlein zu sich ans Bett und sprach: „Liebes Kind, bleib fromm und gut, so wird dir der liebe Gott immer beistehen, und ich will vom Himmel auf dich herabblicken und will um dich sein.“ Darauf tat sie die Augen zu und verschied. Das Mädchen ging jeden Tag hinaus zu dem Grabe der Mutter und weinte und blieb fromm und gut. Als der Winter kam, deckte der Schnee ein weißes Tüchlein auf das Grab, und als die Sonne im Frühjahr es wieder herabgezogen hatte, nahm sich der Mann eine andere Frau.« (Brüder Grimm, Aschenputtel)
Und das Unglück nimmt seinen Lauf …
Die Stiefmutter (frivol, bitterböse und wunderbar ordinär: Cate Blanchett), ihr Kater Luzifer und ihre hochnäsigen Töchter fallen über Cinderellas eins so liebevolles Zuhause her. Das liebreizende Mädchen (Lily James) wird zur Dienstmagd degradiert und nach dem Tod des geliebten Vaters endgültig auf den Dachboden verbannt. Bei einem wilden Ritt durch den Wald lernt sie den Prinzen (Richard Madden) kennen, der inkognito auf der Jagd ist. Nach dieser flüchtigen Begegnung geht dem feschen Prinzen die Unschuld vom Lande nicht mehr aus dem Sinn. Alles Volk wird zum Ball geladen, auf dem sich der Prinz eine Braut erwählen wird.
Die gute Fee (glitzernd: Helena Bonham Carter) zaubert Kutsche, Pferde, Kleid und Glasschuhe herbei und schon gehört Cinderella auf dem Ball der erste Tanz. Mitternacht naht und der Zaubert endet. Die Schöne flieht, verliert einen Schuh und wird von Stund an gesucht. Ob die beiden Liebenden sich jemals wiedersehen werden?
Der britische Regisseur und Schauspieler Kenneth Branagh schöpft für seine Adaption des Märchenklassikers „Cinderella“, der Film läuft im Wettbewerb der Berlinale außer Konkurrenz, aus dem Vollen. Farben, Kleider, Kulissen – alles ist vom Feinsten. Der Mann weiß, was er tut und hat keine Angst vor Kitsch und ganz großen Gefühlen. Mit wunderbarem britischen Humor und liebevoller Ironie entführt Branagh die Zuschauer im wahrsten Sinne des Wortes in eine Märchenwelt. Die Spielfreude der Darsteller rundet das Werk ab. Ein Film für kleine und große Prinzessinnen und Prinzen!
(…) »Da pickten die Tauben einer jeden das eine Auge aus. Hernach, als sie herausgingen, war die Älteste zur linken und die Jüngste zur rechten: da pickten die Tauben einer jeden das andere Auge aus. Und waren sie also für ihre Bosheit und Falschheit mit Blindheit auf ihr Lebtag gestraft.«
Ein Engel auf Erden
Ein Film aus Japan beschließt den diesjährigen Wettbewerb der Berlinale. Im Himmel ist die Hölle los in „Ten no chasuke“ (Chasuke’s Journey) von Sabu. Hundertschaften von Autoren sind damit beschäftigt, die Lebensgeschichten der Menschen niederzuschreiben. Problem: Der Boss (aka Gott oder der Herr) verlangt nach immer verrückteren Geschichten. Auch der Oberteeausschenker wird da schon einmal um ein alternatives Ende gebeten. Leider bleibt sein Eingreifen nicht folgenlos. Die stumme Schönheit Yuri stirbt. Das kann so nicht stehen bleiben. Chasuke muss auf die Erde zurückkehren und die Geschichte korrigieren.
Der Mann stürzt ab, kümmert sich um das Mädchen und das Chaos beginnt. Engel Chasuke rettet fortan mit himmlischer Kraft Menschen das Leben, muss nach jeder guten Tat aber heftig erbrechen. Blinde werden sehend, Lahme gehend. Kraft seiner Gedanken bringt er böse Männer dazu sich Finger abzuschneiden. Dank der sozialen Netzwerke verbreitet sich die Kunde von dem wunderlichen Heiligen rasch in der ganzen Stadt. Das Fernsehen ist hinter ihm her und seine Vergangenheit auch. In seinem früheren Leben war er Mitglied der Yakuza. Seine Schwester betreibt Seetangforschung und singt „Ave Maria“. Die Eltern bereiten sich auf seine baldige Eheschließung vor. Killer sind hinter ihm her. Boten aus dem Jenseits wollen Yuri weiterhin töten. Am Ende leben sie glücklich und vergnügt auf einer Insel. So steht es geschrieben! Sekundenschlaf und sinnlose Gewalt zur rechten Zeit verhindern das vorzeitige Verlassen des Kinos.
Alle Wettbewerbsfilme sind gelaufen, am Samstag hat die Jury das Wort. Diese Beiträge sollten mit dem einen oder anderen Bären bedacht werden: Taxi von und mit Jafar Panahi, 45 Years von Andrew Haigh mit Charlotte Rampling und Tom Courtenay, Victoria von Sebastian Schipper mit Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yigit und Max Mauff, Vergine giurata von Laura Bispuri mit Alba Rohrwacher. Im erweiterten Bären-Kreis: Eisenstein in Guanajuato von Peter Greenaway und El Club von Pablo Larraín.
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