Berlinale 2012: Gitte und Günter – Allein zu Haus

Langsam, lieber Filmfreund, stellt sich der Lagerkoller ein. Zu viele Menschen auf zu engem Raum, zu viele Krankheitskeime und kein Immunsystem, das in der Lage wäre, den Feinden von Außen noch irgendetwas entgegenzusetzen. Gut, wenn zur allgemeinen Befriedung ausnahmsweise einmal Filme über dysfunktionale Familien und kleine Krokodile in schwarz-weiß gezeigt werden. Berlinale Tag 6.

Kennt jemand einen Menschen, der nicht gestört ist und von dem auch keine Ex-Freunde behaupten würden: „Der/Die ist zwar sehr, sehr nett, aber leider komplett Psycho …“? Der ungestörte Mensch ist das Bielefeld unserer Spezies. Man erzählt sich Geschichten, dichtet Oden, besingt ihn in Liedern, allein: Kein menschliches Auge hat ihn je erblickt. Wie bei den hässlichsten Tieren der Welt finden wir uns alle ein wenig eklig, hinsehen müssen wir aber trotzdem. Ein Filmfestival wie die Berlinale bietet mit seinen rund 400 Filmen reichlich Anschauungsmaterial über uns.

Was man liebt, soll man loslassen

Regisseur Hans-Christian Schmid ist nach „Lichter“, „Requiem“ und „Sturm“ erneut mit einem überzeugenden Beitrag im Wettbewerb der Berlinale vertreten. „Was bleibt“ (Home For The Weekend) mit (dem immer großartigen) Lars Eidinger, Corinna Harfouch und Sebastian Zimmler erzählt die Geschichte einer Familie. Wichtiges Thema. Gut, dass dieses Sujet endlich Platz findet im Wettbewerb.

Auf Wunsch von Mutter Gitte trifft sich die Familie am Wochenende bei den Eltern. Gitte (Corinna Harfouch ) hat nach jahrzehntelanger psychischer Erkrankung ihre Medikamente abgesetzt und möchte nun als gesundes Mitglied der Familie wahrgenommen werden. Die Begeisterung von Vater Günter (überzeugend: Ernst Stötzner) hält sich in Grenzen. Der ältere Sohn Marko (Lars Eidinger) versucht einen positiven Umgang mit der Situation, sein jüngerer Bruder Jakob (Sebastian Zimmler) hat Angst vor den Folgen.

Im schönen Eigenheim der Eltern kommt es zur längst überfälligen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Alle haben sich irgendwie arrangiert im Leben, so richtig rund läuft es bei keinem. Und Vater Günter, hat nach dem Verkauf seines Verlages sowieso ganz andere Zukunftspläne gemacht.

Die große Stärke, neben Darstellern und Ausstattung des Films, ist das sehr präzise Drehbuch von Bernd Lange. Sprachlich gelungen und glaubwürdig. Nur am Ende scheint die Handlung zu entgleiten. Hans-Christian Schmids Film ist der zweite deutsche Beitrag im Wettbewerb. Christian Petzolds „Barbara“ hat insbesondere die Kritiker nachhaltig überzeugt. Die Jury kommt hierbei vielleicht zu einem anderen Urteil. Das wäre wünschenswert.

Schni-schna-schnappi im Swimmingpool

„Tabu“, ein Wettbewerbsbeitrag von Miguel Gomes, kommt ohne erkennbare Handlung aus. Dafür spielt ein kleines Krokodil mit. Süß. Die Folge dieser Art der Geschichtsverweigerung ist unmittelbarer Tiefschlaf von ca. 86 % aller Zuschauer in Pressevorführungen. Wer wieder zu sich kommt, geht. Schwer ist es für diejenigen, die zwar erschöpft sind, aber weder schlafen können noch die Kraft haben den Saal zu verlassen.

Die Idee schwarz-weiß Filme in dunklen Räumen ohne Licht zu drehen ist sehr gut. Für den nächsten bis übernächsten Wettbewerb arbeite ich an einem Höhlenfilm. Ganz im Stile von Dogma ohne Licht und ohne Musik. Dialoge sind nicht vorgesehen. Arbeitstitel: „Black Screen“. Ein tonloses Stillleben von expressionistischer Ausdruckskraft vor schwarzer Leinwand. Tiere werden eine Hauptrolle spielen und wahrscheinlich sterben. Die beteiligten humanoiden Darsteller werden echten Sex haben. Laufzeit mindestens 196 Minuten.

Meryl Streep wird im Rahmen der 62. Internationalen Filmfestspiele Berlin mit dem Goldenen Ehrenbären für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Das Festival zeigt aus diesem Anlass ihren neuesten Film „The Iron Lady“ (Die Eiserne Lady) von Phyllida Lloyd im Rahmen des Wettbewerbs als Sondervorführung. Meryl Streep ist für ihre Darstellung der Margaret Thatcher bereits mit einem Golden Globe ausgezeichnet worden und wird am 26. Februar mit sehr großer Wahrscheinlichkeit einen Oscar für ihre Leistung erhalten. Dagegen ist nichts einzuwenden.

Und morgen? 188 Minuten Filmvergnügen in Mandarin. Darauf eine Hand voll Vitamintabletten.

 

 

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