Lichterglanz und Kinderlachen

Am Morgen des zweiten Weihnachtsfeiertags fand man den Vater mit den Füßen voraus im über Nacht ausgekühlten Kachelofen. Die Totenstarre war bereits vollständig ausgeprägt. Beim Eintreffen des Arztes sangen die Flippers auf NDR 1: „Du hast für mich die schönsten Beine“.

Die Ereignisse der vorangegangenen 48 Stunden ließen sich im Nachhinein nur unvollständig rekonstruieren. Mutters Eierpunsch hatte wie immer dafür gesorgt, dass die Erinnerungen an den Heiligen Abend bei allen Familienmitgliedern nahezu vollständig ausgelöscht waren. Als sicher gilt aber, dass es Paul, trotz seiner fünf Jahre, nicht gelungen war, das Reichsbahnausbesserungswerk im Maßstab 1:87 originalgetreu nachzubauen. Die schlampige Arbeit wurde noch unterm Tannenbaum von einem maßlos enttäuschten Vater, unter Zuhilfenahme seiner neuen Handbohrmaschine, vollständig zerstört. Dabei soll er gerufen haben: „Ich bin der König der Hobby-Modellbauer.“ Nach der Bescherung gab es gedünsteten Weißkohlkopf und dicke Bohnen.

Die neue Carrerabahn wurde dem kleinen Besitzer noch vor dem Auspacken wieder abgenommen. Dazu sang das Familienoberhaupt: „Sind so linke Hände, kleine Wurstfinger dran. Darf man nix mit anfassen, zerbricht sonst alles dran.“ Das Spielgerät konnte im Keller unter einem Berg Eierkohlen sichergestellt werden.

Auch bei „Wie hieß ich“, dem heiteren Ratespiel um umbenannte Straßen der ehemaligen DDR, versagte das Kind am Nachmittag des ersten Weihnachtsfeiertags kläglich. „Wilhelm-Pieck-Allee, Wilhelm-Pieck-Allee“, krächzte der Vater mit rotem Kopf, dabei soll er mehrfach die rechte Hand auf Höhe der Herzgegend abgelegt haben. Der weitere Verlauf des Abends konnte bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht rekonstruiert werden. Bild- und Tondokumente von den Feierlichkeiten wurden vollständig zerstört.

Als wahrscheinlich gilt, dass Paul den Vater als Letzter lebend sah. Wie der 1,83 m große und 95 Kilo schwere Mann in den Kachelofen verbracht wurde, gibt nach wie vor Rätsel auf. Ein Fremdverschulden kann nicht ausgeschlossen werden.

Pauls Anruf bei der Polizei ging um 6.38 Uhr ein. Das Kind bat um Unterstützung bei der Bergung eines dicken Mannes aus dem Kamin.

… für Matthias

Anmerkung: Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und realen Handlungen sind rein zufällig. Teile der befreundeten Verwandtschaft wurden zu keinem Zeitpunkt mit einer Handbohrmaschine beschenkt.

 

Behind the Scenes – Die wirklich wahre Geschichte hinter den Begriffen:

Neulich war ich mal wieder zu Hause in Magdeburg, im Stadtteil Salbke um genau zu sein. Meine Schule steht noch da, die Straßenbahn fährt wie immer und der kleine Bach Sülze schlängelt sich durchs Viertel. Sonst hat sich aber viel verändert und hat mit vorweihnachtlichen Geschäftigkeit aus der Kindheit nichts mehr gemein.

Da ist der Herrenfriseurladen von Heinz Müller. Das Geschäft ist seit Jahren geschlossen, die Eingangstür zugemauert. Einst gingen alle Jungen der Schule dorthin, vor den Festtagen auf jeden Fall, zwischendurch auch. Das Problem an der Sache wurde auf Klassen- und Jugendweihefotos deutlich: alle gleicher Schnitt für 1,35 Mark.

Im Laden lief stets NDR 1, das Schlagergedudel war für Jugendliche eine Qual. Wenn das Telefon klingelte, ging die Hand von Heinz Müller zuerst zum Lautstärkeknopf , schnell leise stellen. Man wusste ja nie wer anruft, Westradio im Laden ging nicht.

Gleich gegenüber hatte Familie Landwehr ihr Geschäft. Da gab es die Produkte die der Bördeboden so hergab. Also keine Bananen und Kiwis, dafür aber Weißkohl. Und in der Adventszeit wurden auf dem Hof Weihnachtsbäume verkauft. Das waren vielleicht Krücken. Krumm und schief, mit wenig Ästen. Am besten kaufte man da gleich zwei. Einer wurde der Festbaum, der zweite war der Ersatzteilspender. Das ging ganz einfach: Zweige abschneiden und anspitzen. In den guten Baum wurden mit der Handbohrmaschine Löcher gesetzt und danach die vorbereiteten Zweige reingesteckt.

Bei Landwehr ist auch schon lange Schluss. Also rein in die Straßenbahn, Linie 2 in Richtung Innenstadt. Vorbei geht es an den leeren Hallen mit den eingeschlagenen Scheiben vom einstigen Reichsbahnausbesserungswerk (RAW).

Dort hatten wir als Schüler immer PA-Polytechnische Arbeit. In wochenlanger Kleinarbeit haben wir Sicherungseisen für Güterwagen hergestellt, damit die Türen beim Öffnen nicht aus den Führschienen rutschen. Arbeitsschritte: Anreißen, mit der Handhebelschere kürzen, Bohren, Feilen, Fräsen – das ganze Programm. Lange her.

Am RAW vorbei geht es weiter, zwanzig Minuten dauert die Fahrt noch heute. An der Kreuzung Ernst-Reuter-Allee/Breiter Weg wird ausgestiegen. Einst hieß der Schnittpunkt Wilhelm-Pieck-Allee/Karl-Marx-Straße. Gleich dahinter ist der Alte Markt mit dem Alten Rathaus. Dort gehen die Magdeburger auf den Weihnachtsmarkt, bis zum 30. Dezember übrigens. Die Logik daran: Zwischen den Feiertagen und Silvester haben die Leute die meiste Zeit. Weihnachtsbäume werden dort auch verkauft, kosten zwar deutlich mehr als die Produkte des Waldsterbens von Landwehr, man braucht aber auch nur einen Baum.

Stellt sich noch die Frage nach der Entsorgung. Früher wurde die Tanne im Januar klein geschnitten. Die Äste knisterten herrlich im Kachelofen. Heute wird ökologisch einwandfrei geschreddert und danach kompostiert.

Text: Matthias Roth

 

Und weiter geht’s: Alle Jahre wieder werden wir am Ende eines Jahres von Weihnachten überrascht. Um die Vorfreude auf Kind, Krippe und Geschenke ins schier Unermessliche zu steigern, werden hier Träume wahr. Ihr spendiert fünf Begriffe in einem Kommentar unterhalb dieses Beitrags, und ich bastele daraus einen rauschgoldengelhaften Blog-Text inkl. Widmung zur Vorweihnachtszeit. Die streng subjektive Auswahl der jeweiligen Begriffs-Serie wird von mir persönlich vorgenommen. Der Rechtsweg ist absolut ausgeschlossen.