Joaquin Phoenix lässt die Hosen runter

Sie wollen nicht länger sie selbst sein? Lust, einfach mal alle Fünfe gerade sein und so richtig die Sau raus zu lassen? Sie kennen keine Tabus, stehen gerne in der Öffentlichkeit und haben verschwiegene Familienmitglieder (Vorkenntnisse in den Bereichen Film/Drehbuch/Kamera sind kein Hindernis), die das ganze mit der Kamera dokumentieren? Außerdem haben Sie auch noch eine gute Idee, mit welchem philosophischen Überbau sie das Ganze hinterher ihren Mitmenschen verkaufen? Dann nix wie los!

Außerdem heute mit dabei: 99 Minuten Film, zwei Kameraeinstellungen, ein Schnitt. Geht nicht? Von wegen!

Kinokarten für die MockumentaryI’m Still Here: The Lost Year of Joaquin Phoenix“ gehören vermutlich zu den begehrtesten Tickets des diesjährigen CPH:DOX. Alle regulären Vorstellungen und nachträglich angesetzten Zusatzvorstellungen waren innerhalb kürzester Zeit ausverkauft.

Joaquin Phoenix spielt in „I’m Still Here“ die sprichwörtliche Rolle seines Lebens. Die Geschichte, die der Öffentlichkeit über das Projekt verkauft wurde geht so: Schauspieler auf dem Höhepunkt seines Tuns, gelangweilt von der Kunstwelt die ihn umgibt, steigt 2008 aus und beschließt nie wieder einen Film zu drehen, dafür Rapper zu werden und dabei auch noch sich selbst zu finden. Phoenix Schwager, der Schauspieler, Regisseur, Ben Affleck Bruder und Veganer Casey Affleck soll ihn mit der Kamera auf diesem neuen Lebensabschnitt begleiten. Um Zweifler zu überzeugen, werden unter anderem Auftritte wie der berühmt berüchtigte bei David Lettermann absolviert.

http://www.youtube.com/watch?v=AuO75_hJgCQ&feature=related

Im Rahmen der Internationalen Filmfestspiele von Venedig im September 2010 dann die Auflösung: doch alles nur gespielt. Ein Schelm wer jetzt auf den Gedanken kommt: Na, wenn uns da mal nicht ein Spiegel vorgehalten wurde, über Sein und Schein. Und durch welch tiefe Täler ist ein Mann bereit zu gehen, wenn er glaubt eine Mission zu haben!? Respekt.

Phoenix schont sich und andere nicht und gibt alles auf dem Weg vom glatten „Nice Guy“ zum verkommen versifften Arschloch. Wir sehen Phoenix mit entblößtem Gemächt vor einer Prostituierten. Phoenix mit verfilztem Haar und wirrem Bart. Phoenix mit T-Shirt oder mottenzerfressener Mütze auf dem Kopf. Phoenix bei dem verzweifelten Versuch Sean „P. Diddy“ Combs von seiner Musik zu überzeugen. Phoenix beim bepöbeln seiner Assistenten. Als Reaktion auf all die Demütigungen, den Assistenten beim nächtlichen Entleeren des Darmes über Phoenix Gesicht. Phoenix schwallartig erbrechend (sicher eine der schönsten und wahrhaftigsten Szenen des Films). Nutten, Drogen, Irrsinn und ein Selbstdarsteller, der seine Sache wirklich ernst nimmt (was für ein Arbeitsethos!).

http://www.youtube.com/watch?v=Y2spHiYOORc

Was, wenn es wahr gewesen wäre? Noch so ein Opfer der Plastik-Traum-Fabrik. Millionen Dollar Gagen pro Film machen eben doch nicht nur glücklich. Hollywood frisst seine besten Kinder. Aber, puh, Gott sei Dank alles nur Fake. Die Hybris des eigenen Egos auf die Spitze getrieben. Warum? Weil man es kann. Ein Mann schafft sich selbst ab, erfindet sich neu, bzw. lässt sich neu erfinden und geht dann doch wieder über Los. Auf was ist Phoenix hinter seiner öffentlichen Fassade gestoßen? Wir wissen es nicht. Aber der Hauptdarsteller hat sicher recht, wenn er brüllt: „There’s no need being such a fucking asshole.“

Seltsam, im Nebel zu wandern …

Natürlich hätte man es besser wissen können, wenn man die Beschreibung: „ An artificial sunrise in the darkness of the cinema“ ernst genommen hätte. Die Fotografin und Filmemacherin Sharon Lockhart präsentiert im Rahmen des CPH:DOX ihr 99 Minuten langes Werk „Double Tide“.

Wir sehen eine Frau im Morgennebel, eine Art Schlitten hinter sich herziehend, durch den Morast stapfen. Der Schlitten wird abgestellt, die Frau trinkt aus einer Flasche, nimmt eine Kiste und beginnt im Schlamm nach etwas zu suchen und damit die Kiste zu füllen. Wir hören das Schmatzen des Schlicks, das Rufen der Möwen. Eine Kameraeinstellung, keine Musik, keine Stimme aus dem Off, kein Schnitt. Ein Film über die totale Entschleunigung unter dem Motto: Wer zuerst einschläft verliert.

Minute 30: Die Frau ist fast ganz im Nebel verschwunden.

Minute 32: Mittlerweile sind in den Reihen vor mir drei Köpfe sanft zur Seite gesunken.

Minute 34: „Double Tide“ ist ein idealer Film für frisch Verliebte. Während des gesamten Films kann hemmungslos geknutscht werde, ohne wesentliche Handlungsstränge zu verpassen.

Minute 37: Ein Vogel fliegt durchs Bild. Kurz Unruhe im Publikum.

Minute 41: Zunehmende motorische Unruhe meines Sitznachbars.

Minute 42: Im Publikum herrscht eine angespannte Stimmung. Keiner will der Erste sein, der geht.

Minute 44: Ein Paar verlässt den Kinosaal. Unsere Protagonistin ist zu diesem Zeitpunkt fast nicht mehr zu sehen. Das macht aber nichts.

Minute 48: Der Nebel lichtet sich.

Minute 51: Schnitt

Abendstimmung, leicht veränderte Kameraposition. Frau mit Schlitten kommt von links ins Bild und nimmt ihre Arbeit wieder auf.

Minute 53: Sitznachbar tritt nach mir und bietet zur Wiedergutmachung Lakritze an. Gebe ihm mit einem Würgelaut zu verstehen, dass ich Lakritze nicht so gut finde.

Minute 56: Eine Fliege fliegt mehrfach durchs Bild.

Minute 59: Ein Hund bellt und die Fliege fliegt wieder.

Minute 64: Die Frau hat „Oh“ gesagt.

Minute 65: Die Frau hustet mehrfach.

Minute 68: So jung kommen wir nicht mehr zusammen.

Minute 75: Kurzer Anflug von Verzweiflung, weil ich nicht weiß, wie lange der Film geht. Wie kann man so unvorbereitet sein?

Minute 83: Von rechts kommt ein großer Vogel ins Bild.

Minute 85: Die schönsten Eisenbahnstrecken Deutschlands wären jetzt ein tolle Abwechslung.

Minute 86: Die Frau lacht? Warum lacht die Frau?

Minute 87: Hört außer mir noch jemand Sonargeräusche?

Minute 93: Ginge die Sonne doch nur schneller unter.

Minute 94: Protagonistin nähert sich ihrem Schlitten.

Minute 95: Reinigen der Gummistiefel.

Minute 96: Reinigen der Transportkörbe.

Minute 97: Reinigen der Gummistiefel.

Minute 98: Reinigen der Unterarme.

Minute 99: …

Ende