Berlinale 2016 – Schau mir in die Augen, Kleiner!

Nach der Eröffnung der 66. Berlinale mit „Hail, Caesar!“ von Joel und Ethan Coen, der außer Konkurrenz gezeigt wird, startete das Filmfestival am Freitag in den eigentlichen Wettbewerb. Der tunesische Film „Inhebbek Hedi“ (Hedi) von Mohamed Ben Attia eröffnete offiziell das Rennen um die Bären.

 

#hedi #berlinale

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Blut ist dicker als Wasser

Hedi (Majd Mastoura) steht unter der Fuchtel seiner dominanten Mutter und seines feisten älteren Bruders, die sein Leben für ihn organisieren. Hochzeit, Hausbau, Inneneinrichtung, neuer Job – Mutti wird’s schon richten. Braut und Bräutigam treffen sich nachts heimlich in dunklen Gassen in seinem Auto. In zugewandter Zurückhaltung werden Nettigkeiten ausgetauscht. Als der 25-jährige Bub eine Woche vor der Vermählung seine neue Außendiensttätigkeit antritt, steckt ihm Mama vor der Abreise sein selbst verdientes Taschengeld zu.

Hedi hätten den perfekten Job als Vertreter für Peugeot, wenn sich Autos durch schüchternes Schweigen verkaufen ließen. Kleine kläffende Pinscher, die an Ketten Wachhund spielen dürfen, halten Hedi vom Betreten eines Werksgeländes ab. Seine Leidenschaft gilt dem Zeichnen von Comics. Die Lage im Hotel ist trostlos – Bela Rethy kommentiert im Fernsehen ein Spiel der deutschen Fußballnationalmannschaft – aber nicht hoffnungslos. Hedi verliebt sich in die selbstbewusste Gästebetreuerin Rim (Rym Ben Messaoud) und erlebt mit ihr glückliche Tage. Für sie möchte er alles aufgeben und gemeinsam mit ihr nach Frankreich gehen. In einem emotionalen Wutschwall knallt der ungeliebte Sohn mit dem einen Segelohr, Mutter und Bruder den Frust der letzten 25 Jahren vor die Füße.

Die Tasche ist gepackt. Das Visum für die Hochzeitsreise, die nicht stattfinden soll, liegt bereit. Kurz vor der Abreise holt ihn die politische Situation in seinem Heimatland ein. Der Schwiegervater in spe wurde verhaftet. Aufbruch oder ein Leben nach Plan? Kehrt der reuige Sohn pflichtbewusst in den Schoß der Familie zurück, die für ihn sorgt und sein Leben arrangiert? Getragen wird der Film vom zarten Mienenspiel seines Hauptdarstellers, mit dem man hofft und bangt. Ein gelungener Einstieg in den Wettbewerb.

Behind Blue Eyes

Klein Alton ist 8 Jahre alt, trägt immer eine blaue Schwimmbrille und meistens Ohrenschützer. Er hat noch nie die Sonne gesehen. Gemeinsam mit seinem finster umwölkten Vater (Michael Shannon) und dem sehr starken Lucas (Joel Edgerton) ist er auf der Flucht. Papa hat ihn aus einer christlichen Sekte entführt, die ihn für den Erlöser hält. Dort möchte man ihn zurück haben, weil der Jüngste Tag kurz bevor steht. Da Alton, wenn er einen seiner häufigen Krampfanfälle hat, nicht nur verschiedene Sprachen spricht, sondern auch Regierungsgeheimnisse ausplaudert, haben FBI, NSA, Army und Homeland Security auch ein starkes Interesse daran, des Kindes schleunigst habhaft zu werden.  

  und was kommt jetzt? #berlinale   Ein von Julie (@fraujulie) gepostetes Foto am

Wo Alton in Jeff Nichols Wettbewerbsbeitrag “Midnight Special” sich nieder kniet, da wächst kein Gras mehr. Wem der kleine Wunderknabe einmal in die Augen geblickt hat, der sieht nicht nur grelles Licht, sondern wird vor allem zum treuen Jünger des kleinen Meisters. Einige Anfälle später und nach erster intensiver Sonneneinstrahlung enthüllt uns das Kind seine Herkunft und Geschichte. Während die Menschen als Versuchsratten unter der Beobachtung einer außerirdischen Intelligenz stehen, will Alton einfach nur nach Hause telefonieren lassen – Agent Sevier (Adam Driver) übernimmt das sehr gerne für ihn.

Der kleine Telepath will einfach nur nach Hause gebeamt werden. Bis es soweit ist, lässt er Regierungssatelliten abstürzen, öffnet Autotüren und setzt die komplette Überwachungseletronik eines Army-Stützpunktes außer Kraft. Nach knapp zwei Stunden ist unser anämischer Alien-Mensch-Hybride endlich am verabredeten Treffpunkt angekommen. Mutti (blässlich verhärmt: Kirsten Dunst) bleibt am Waldrand zurück – des Knaben Augen glühen schon wieder. Während die Druckwelle des Sounds die Zuschauer in den Sitzen festnagelt, erhebt sich ein Energiedom – darin: luftige Beton-Glas-Architektur mit großen Sonnensegeln, bewohnt von flirrenden Lichtwesen. So schnell wie sie gekommen sind, ist der Spuk auch wieder vorbei und Mutti bleibt alleine zurück und weint.

Schöner Mann, was nun?

Béatrice (Simone-Élise Girard), Ministerin im Kabinett des kanadischen Premierministers, geht es schlecht, weil ihr schöner Gatte Boris (James Hyndman) ein rechter Hallodri ist. Wenn der graue Wolf mit seinem athletischen Körper in den gut sitzenden Hemden nicht weiter andere Frauen beglücken und statt dessen netter zur Mutter im Altenheim und der Tochter mit alternativem Lebensentwurf wäre, dann würde es der Gemahlin rasch besser gehen.

Zunächst muss das Alphamännchen im Designeranzug aber noch die russische Krankenpflegerin Klara (Isolda Dychauk) besteigen, dann wird er ein besserer Mensch, der einfach nur geliebt werden möchte. Die Genesung kann beginnen. Béatrice spricht wieder, zieht sich ein rotes Kleid an und Schuhe mit Keilabsätzen. Gemeinsam schlendert man Hand in Hand die Auffahrt des Landhauses entlang. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann schlendern sie im kanadischen Wettbewerbsbeitrag „Boris sans Béatrice“ (Boris without Béatrice) von Denis Côté (Silberner Bär 2013 für „Vic+Flo haben einen Bären gesehen“) noch heute.

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