Berlinale 2011 – Und die Welt steht still

Ein Berlinale-Wettbewerbstag der Superlative liegt hinter uns: Den meisten Applaus gab es für den iranischen Film „Jodaeiye Nader az Simin“ (Nader And Simin, A Separation), die anderen Beiträge glänzten durch Zuschauerschwund, Länge, mehr Kunst als Kino und einschläfernde Dialoge. Außerdem: eine sprechende Katze und ein Kartoffel-Film.

Hand aufs Herz, wie viel Lebenszeit habt ihr heute schon verplempert und was werdet ihr morgen dagegen tun? Ich Frage für den Schwager des Bruder eines Freundes.

Der sechste Berlinale-Tag stand im Zeichen des iranischen Regisseurs Asghar Farhadi, der bereits 2009 für seinen Film „About Elly“ mit einem silbernen Bären ausgezeichnet wurde und wie selbstverständlich die Rolle des Favoriten auf einen (weiteren) Bären im Wettbewerb der 61. Internationalen Filmfestspiele Berlin übernahm. Sein Film „Jodaeiye Nader az Simin“ (Nader And Simin, A Separation) erzählt die Geschichte eines Paares, dessen Lebensplanung an einem Scheideweg angekommen ist, und wir folgen ihm mehr als bereitwillig zwei Stunden in ein Land und eine Kultur, die wir in der Regel nur vom Hörensagen kennen.

Simin (Leila Hatami) möchte mit ihrer Familie den Iran verlassen. Alles ist arrangiert, die Visa liegen bereit. Wohin es geht, müssen wir nicht erfahren, das wäre eine andere Geschichte. Nader (großartig: Peyman Moadi) möchte seinen an Alzheimer erkrankten Vater nicht verlassen, dessen Pflege er übernommen hat. Eine erste Trennung ist beschlossen, die Scheidung steht kurz bevor. Die gemeinsame Tochter Termeh (Sarina Farhadi) bleibt beim Vater. Zur Bewältigung des Alltags mit dem erkrankten Vater engagiert Nader eine Pflegerin. Die tiefgläubige Razieh (Sareh Bayat) tritt die Stelle an, ohne mit ihrem Mann darüber gesprochen zu haben. Die schwangere Frau ist mit der Herausforderung, den Haushalt zu führen und den greisen Pflegefall zu versorgen, überfordert. Außerdem ist es ihr nicht gestattet, einen Mann zu berühren, auch nicht um pflegerische Tätigkeiten auszuführen, wenn kein verwandtschaftliches Verhältnis besteht. Als Nader seinen hilflosen Vater eines Tages ans Bett gebunden vorfindet, weißt er Razieh aus seiner Wohnung. Die Situation eskaliert.

Schuld und Sühne, Religion und Moral, Arm und Reich – bei Asghar Farhadi prallen Welten aufeinander, weil das Leben eben so ist. Farhadi kennt seine Figuren mit ihren Geschichten und vertraut ihnen.

Uns ist der Einblick in eine bestimmte Phase ihres Lebens gestattet. Sie waren vor uns da und existieren nach uns weiter. Ihre kleinen lässlichen Sünden, die zu großen werden, wenn alles außer Kontrolle gerät. Termeh leidet unter der Trennung von der Mutter, will den geliebten Vater aber auch nicht verlieren. Für ihn wird sie eine Lüge auf sich nehmen. Ist eine kleine Lüge gestattet, wenn dadurch größeres Unrecht verhindert werden kann? Die Protagonisten sind nicht nur durch ihre unterschiedliche soziale Klasse voneinander getrennt. Tief verschleiert oder gerade das Nötigste bedeckend begegnen sie sich und müssen eine Möglichkeit zur Kommunikation finden. Überforderung und Verzweiflung provozieren zutiefst menschliche Reaktionen, auch wenn andere darunter leiden müssen. Diese Schwäche verurteilt Farhadi nicht, aber seine Protagonisten müssen dazu stehen, die eine mehr, der andere weniger. „Jodaeiye Nader az Simin“ zeigt uns das Leben anderswo, das sich oft gar nicht so sehr von unserem unterscheidet und manchmal doch so sehr, dass wir ihm dankbar sind, dass er uns die Möglichkeit eröffnet, Anteil nehmen zu dürfen. Ein Film, der noch lange in Erinnerung bleiben wird.

Sinnsuche mit Katze – Miranda Julys „The Future“

Es geht aber auch ganz anders, Miranda July zeigt uns in „The Future“ wie. Sophie und Jason möchten für sich und ihr Kuschel-T-Shirt eine kranke Katze adoptieren, die maximal noch sechs Monate zu leben hat. Bei der Abholung des vermeintlichen neuen Mitbewohners erfahren die beiden, dass Katze „Pfötchen“ bei guter Pflege noch gute 5 Jahre vor sich hat und außerdem noch 30 Tage in der Tierklinik verbleiben muss. Die letzten 30 Tage in Freiheit beginnen. Zwischendurch erzählt uns „Pfötchen“ Sachen. Sprechende Tiere muss man mögen. Sophie und Jason krempeln derweil in 30 Tagen ihr Leben um.

Wer keine Probleme hat, der macht sich welche. Warum auch nicht, möchte man den beiden anämischen Hauptdarstellern zurufen, aber heute noch. Die emotionale Bandbreite der Hauptfiguren liegt bei null und um jegliche Anstrengung zu vermeiden, wurden ihnen retardierte Dialoge in die Münder gelegt, ohne Betonung auf egal was, gibt ja auch nichts. Diese depressive Verstimmung ohne tatsächlichen Befund möchte man gerne in einen Mittagsschlaf hinüberretten. Irgendwann hält Jason die Zeit, aber leider nicht den Film an.

Mann, Frau, Kutsche, Pferd

Dann sehen wir einem Kutscher und seiner Tochter fünf Tage beim Leben zu, und das geht so: Aufstehen, hinaus in den Sturm, Wasser holen, den Vater anziehen, zwei Gläser Schnaps zum Frühstück trinken, nach Pferd und Kutsche sehen, wieder ins Haus gehen, Kartoffeln fressen, in den Sturm starren, auf die Nacht warten, schlafen gehen. Einmal klopft es, einmal kommt fahrendes Volk. Der Brunnen trocknet aus. Grund genug, das Hab und Gut auf einen Leiterwagen zu packen, einmal weiträumig um den Block zu gehen, nach Hause zu kommen und alles wieder hineinzutragen.

„A Torinó ló“ (The Turin Horse / Das Turiner Pferd) von Béla Tarr verharrt 146 Minuten in langen Kameraeinstellungen und verzichtet fast vollständig auf Dialoge – das ist viel Kunst und wenig Kino. Ein Film und ein Leben in schwarzweiß. Kartoffel-Filme sollte man auf der Berlinale nie ganz aus den Augen verlieren, roh, gekocht, in Körperöffnungen getragen, sind sie immer wieder für eine Überraschung gut