Berlinale 2011 – Mein ist die Rache

Das Berlinale-Jahr der Katze neigt sich seinem Ende entgegen. Am heutigen Samstag werden in Berlin die Bären vergeben. Zum Abschluss des Wettbewerbs wird altes Gewohnheitsrecht einer Familie zum Verhängnis, fahren Liam Neeson und Diane Kruger zusammen Taxi, und Berlin wird in Schutt und Asche gelegt.

Während der 61. Internationalen Filmfestspiele von Berlin sind Ruhe und Frieden in unsere Herzen eingekehrt. Wir haben Schauspieler auf Tranquilizer, das Elend von Paarbeziehungen und vor allem Katzen gesehen. Die vielen Trennungen, an denen wir stundenlang teilhaben durften, waren uns mindestens so egal wie den Akteuren auf der Leinwand. Der Wettbewerb hielt sich, bis auf wenige Ausnahmen, mit der Präsentation großen Kinos vornehm zurück. Sicher wäre uns mehr Qualität zuzumuten gewesen. Mit „True Grit“ von Joel und Ethan Coen, Werner Herzogs „Cave Of Forgotten Dreams“ vor allem aber mit Wim Wenders 3-D-Meisterwerk „PINA“ liefen im Wettbewerb außer Konkurrenz drei Filme, die noch lange im Gedächtnis bleiben werden und die ihr euch in dieser oder jeder anderen Reihenfolge ansehen werdet. Bevor wir uns möglichen Bärenkandidaten zuwenden, lasst uns nunmehr gemeinsam den Wettbewerb abschließen.

Mit Joshua Marstons „The Forgiveness Of Blood“ tauchen wir in eine Welt ein, bestimmt vom mündlich überlieferten Gewohnheitsrecht des Kanun. Dieser vermutlich aus dem Mittelalter stammende Kodex regelt verbindlich das Leben der Menschen in Albanien. In vielen Regionen kommt er auch heute noch zur Anwendung. Vor allem in ländlichen Gebieten Nord-Albaniens steht der Kanun innerhalb der albanischen Großfamilien über der modernen Rechtssprechung.

Die Familie von Nik (Tristan Halilaj) und Rudina (Sindi Laçej) wird in einen Streit über das Wegerecht mit einer anderen Familie verwickelt. Es kommt zu einem Mord. Der Onkel von Nik und Rudina wird verhaftet, der Vater der beiden flieht. Nach dem Gesetzt des Kanun sind alle männlichen Familienmitglieder durch die Tat des Vaters von Blutrache bedroht und dürfen das Haus nicht mehr verlassen, das gilt auch für Nik und seinen siebenjährigen Bruder. Nur die Familie des Opfers kann diesen Bann ganz oder zeitweise aufheben. Frauen, die nach dem Kanun nichts gelten, und Priester sind von der Blutrache ausgenommen. Es ist nun an Rudina, die eigentlich später studieren möchte, die Schule zu verlassen und für den Unterhalt der Familie zu sorgen.

Nik erträgt die Gefangenschaft in seinem Elternhaus immer schlechter, am Ende ist er bereit, sein eigenes Leben zu opfern, um die unerträgliche Situation der Familie zu beenden. Wie ein toter Mann auf dem Weg zu seiner eigenen Hinrichtung, macht er sich auf den Weg ins Dorf.

Marston verurteilt nicht, er beobachtet und beschreibt. Sein Blick auf eine uns archaisch anmutende Welt ist klar, es sind die beiden Kinder, denen seine Aufmerksamkeit gilt. Die Kamera von Rob Hardy fängt dabei fast dokumentarische Momentaufnahmen ein. Mit Nik und Rudina verbindet sich die Hoffnung auf eine Überwindung der „Auge-um-Auge“-Mentalität. Ob das gelingt, muss der Film offen lassen. Rudina nimmt die Herausforderung an, die Ernährerin der Familie zu sein. Nik wendet sich gegen den Vater. Am Ende scheint vieles Möglich, vor allem aber auch ein Berlinale-Bär.

Für alle, denen in den vergangenen Tagen die Wettbewerbsfilme überwiegend zu ruhig waren, jagt Jaume Collet-Serra in „Unknown“ mit Liam Neeson und Diane Kruger kurz einmal das halbe Hotel Adlon in die Luft. Davor werden zahlreiche Autos zu Schrott gefahren, und der Bahnhof Friedrichstraße qualmt aus unerfindlichen Gründen. Die Handlung ist so irrelevant wie actionreich. Dr. Martin Harris (Liam Neeson) reist mit seiner Gattin Liz (January Jones) zu einem Biotechnologie-Kongress nach Berlin. Harris erwacht nach einem Unfall aus dem Koma, und der Platz an der Seite seiner Frau wurde mittlerweile von einem anderen Dr. Martin Harris (Aidan Quinn) besetzt. Das kann Harris I natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Er will seine Identität zurück. Unterstützt wird er dabei von Gina (Diane Kruger). Harris II und einige böse Buben finden das gar nicht gut. Nicht alle werden am Ende mit einem ICE ab Berlin Hauptbahnhof die Stadt verlassen.

So, liebe Filmfreunde, bevor am Samstagabend die Jury-Entscheidungen bekanntgegeben werden, ist es nun an der Zeit, sich weit aus dem Fenster zu lehnen und eine persönliche Bilanz zu ziehen, wohl wissend, dass am Ende vermutlich alles ganz anders kommt. Aber zu eurer aller Erbauung folgen nun meine persönlichen Bärenkandidaten.

Die Berlinale 2011 kann eigentlich nur einen Sieger haben: „Jodaeiye Nader az Simin“ (Nader And Simin, A Separation) von Asghar Farhadi, den mit Abstand besten Film im Wettbewerb. Den iranischen Regisseur nach dem silbernen Bären 2009 erneut auszuzeichnen wird 2011 immer auch mit einer politischen Diskussion verbunden sein. Bis zuletzt blieb ein Platz der Internationalen Jury unbesetzt. Jafar Panahi, im Iran zu sechs Jahren Haft und 20 Jahren Berufsverbot verurteilt, konnte sein Heimatland nicht verlassen. Der persönliche Erfolg von Asghar Farhadi hätte auch Signalwirkung.

Weitere mögliche Bären-Kandidaten: der Film zur Finanzkrise „Margin Call“, Ralph Fiennes‘ Interpretation von Shakespeares „Coriolanus“ und Joshua Marstons Film über das Recht der alten Männer „The Forgiveness Of Blood“. Bleiben wir realistisch und Blicken wir dem Schrecken ins Auge: Vielleicht machen die Kartoffeln in „A toriói ló“ (The Turin Horse / Das Turiner Pferd) von Béla Tarr oder Miranda Julys Einschlafhilfe mit sprechender Katze „The Future“ das Rennen. In wenigen Stunden wissen wir mehr!