Wein, Weib, Wüste – der Wettbewerb der 66. Berlinale ist komplett
Ist es die Erschöpfung des philippinischen Langfilms vom Vortag oder die allgemeine Müdigkeit von vielen Filmen, die allen in den Knochen steckt? Am neunten Tag der 66. Internationalen Filmfestspiele in Berlin füllt sich der Berlinale Palast zur ersten Vorstellung am Morgen deutlich langsamer.
‚Liebe wird nicht – Liebe ist‘
Der erste Wettbewerbsbeitrag des Tages nimmt uns mit in eine Kleinstadt in der polnischen Provinz Anfang der Neunzigerjahre. Tomasz Wasilewski porträtiert in „Zjednoczone stany mi?o?ci“ (United States of Love) in kühlen, fast schwarz–weiß anmutenden Bildern vier Frauen in einem desillusionierten Anti–Liebesfilm.
Agata (Julia Kijowska) ist in einen Priester verliebt und verharrt in der Ehe mit dem ungeliebten Gatten Jazek (?ukasz Simlat). Sie ist für sich und ihre Familie eine Zumutung. Die unterkühlte Schuldirektorin Iza (Magdalena Cielecka) hat ein heimliches Verhältnis mit dem verwitweten Arzt Karol (Andrzej Chyra). Der möchte nach dem Tod seiner Frau die Geliebte loswerden. Für ihre maßlose, unterwürfige Liebe ist Iza bereit über Leichen zu gehen.
Russischlehrerin Renata (Dorota Kolak) lebt mit vielen Singvögeln zusammen in ihrer eigenen kleinen üppig begrünten Tropenhalle. Verzweifelt ist sie in ihre junge Nachbarin Marzena (Marta Nieradkiewicz) verliebt. Für ein bisschen Zuwendung und Aufmerksamkeit beweist sie großen Einfallsreichtum. Vor allem das Spiel von Dorota Kolak als schmerzlich Vereinsamte geht schrecklich nah. Sport– und Tanzpädagogin Marzena wartet auf ihren Mann, der seit Jahren im Westen lebt und arbeitet und träumt von einer internationalen Karriere als Model. Dafür ist sie bereit große Opfer zu bringen.
Alle vier Frau kennen einander. Wasilewski verbindet ihre Geschichten zu unterschiedlichen Zeiten, greift Handlungsstränge an verschiedenen Orten, wo sich ihre Wege kreuzen, wieder auf und spinnt sie neu weiter. In Tomasz Wasilewski „Zjednoczone stany mi?o?ci“ ist Liebe niemals warm, innig oder selbstlos. Hier wird Liebe ausgenutzt, benutzt und weggeworfen und tut vor allem immer nur schrecklich weh.
Drei Männer und ein Baby
Nach so viel Lebens– und Liebesfeindlichkeit müssen es mal wieder die Franzosen mit Wein, Weib und einer Autofahrt richten. Gustave Kervern und Benoît Delépine schicken in “Saint Amour” Gérard Depardieu, Benoît Poelvoorde und Vincent Lacoste auf eine Weinreise durch Frankreich. Sébastien Tellier liefert den erstklassigen Soundtrack dazu. Michel Houellebecq stellt in einem Gastauftritt seine schauspielerischen Qualitäten unter Beweis.
Vater Jean (Depardieu) möchte mit seinem Zuchtbullen auf der Landwirtschaftsausstellung in Paris den ersten Preis gewinnen. Sohn Bruno (Poelvoorde) will sich in Ruhe von Weinstand zu Weinstand saufen. Damit Bruno aber nicht die Gabel in den Misthaufen wirft, beschließt der Vater, mit dem Sohne eine kleine echte Weinreise zu unternehmen. Mit Taxifahrer Mike (Lacoste) kann die Tour beginnen. Alkoholschwangere Weisheiten und kleine Amouren lassen die ungleiche Gruppe allmählich zusammenwachsen. Als Venus (Céline Sallette) die Hilfe von drei ganzen Kerlen benötigt, lassen sich die drei nicht lange bitten. Liebe kann doch irgendwie schön sein.
Auch wenn aus dem einen oder anderen Gag etwas zu sehr der Geist des Weines spricht, sorgt “Saint Amour”, der im Wettbewerb außer Konkurrenz gezeigt wird, für sehr viel Heiterkeit im Berlinale Palast.
Wenn es Nacht wird in der Wüste
Am 22. Januar 1965 fährt Kommissar Babak Hafizi (Amir Jadidi) in die Wüste auf der archaischen Insel Qeshm. Ein verbannter Gefangener hat sich in einem alten Schiffswrack erhängt. Die Wände sind übersät mit Tagebuchnotizen, Romanzitaten und rätselhaften Schriftzeichen aus den Jahren seiner Verbannung. Das Geisterschiff liegt mitten in einem jahrhundertealten Friedhof. Geister sollen hier des Nachts umgehen. Der Ermittler kehrt mit einem Toningenieur und einem Geologen zurück an den geheimnisvollen Ort, um rätselhafte Erdbeben zu entschlüsseln.
Jahrzehnte später begibt sich Filmemacher Haghighi auf die Suche nach den drei scheinbar spurlos verschwundenen Männern. Alte Verhörprotokolle belegen, dass der Kommissar, der Geologe und der Toningenieur verhaftet wurden. Was hat sich in der Wüste zugetragen? Wo ist das verschwundene Baby und was war im Trinkwasser?
Die brilliante Farbigkeit und Schärfe der Bilder von Kameramann Houman Behmanesh und der pulsierende Soundtrack von Christophe Rezai entwickeln eine Sogkraft, die immer weiter in die geheimnisvoll verschachtelte Geschichte hineinziehen. Was ist Traum, was ist Realität? Viele Fragen kreisen um die mysteriösen Ereignisse in der Vergangenheit und in der Gegenwart.
Mit dem iranischen Film „Ejhdeha Vared Mishavad!“ (A Dragon Arrives) von Mani Haghighi ist der Wettbewerb komplett. Haben wir hier einen letzten Bärenkandidaten gesehen? Die Jury hat das letzte Wort. Am Samstagabend werden bei der 66. Berlinale die Bären verliehen.
Hier gibt’s den ganzen Wettbewerb zum Nachlesen.
- Berlinale 2016 – Seltsam, im Nebel zu wandern
- Berlinale 2016 – Goldener Bär für italienische Flüchtlings-Doku „Fuocoammare“ von Gianfranco Rosi