DOK Leipzig 2017: Respekt für Steckenpferde – Filmtipps Teil 2
Love, Peace and Happiness, lange Haare, Batik–Shirts und bewusstseinserweiternde Drogen – in „Soviet Hippies“ (Noukogude hipid) von Terje Toomistus, gibt es von allem reichlich. Rebellion gegen das Establishment trifft auf den Zorn der Spießbürger – und Woodstock ist weit. Sowjet–Hippies lebten gefährlich. Ihre Erscheinung, das Lebensgefühl, die Musik und die Kunst führen zu brutalen Übergriffen. Sie werden verfolgt und drangsaliert. Freie Liebe, Meditation und ein Leben im Einklang mit der Natur sind Verheißungen, die für das erlittene Unrecht entschädigen. Auch wenn die Beatles nicht verstanden werden, durchdringen ihre universellen musikalischen Vibrations den eisernen Vorhang und treffen auf empfängliche Freigeister.
Posted by Soviet hippies on Montag, 1. Mai 2017
Als der Druck und die Repression durch KGB und Polizei stärker werden, verschwindet ein Teil der Bewegung im Untergrund. Die Konfrontation mit den staatlichen Autoritäten fordert Todesopfer. Die Bewegung wird politischer. Terje Toomistu trifft Althippies, ehemalige Gurus und stark verwitterte Blumenkinder. Ein warmer und humorvoller Blick zurück. Für viele die letzte Gelegenheit, aus ihrer bewegten Vergangenheit zu berichten. Mit einzigartigem Archivmaterial dokumentiert Toomistu ein Stück weitgehend unbekannte Sowjethistorie. Eine musikalische Zeitreise wie ein psychedelischer Drogentrip. Love is all we need.
Soviet Hippies (Noukogude hipid) von Terje Toomistu, Internationales Programm, Estland / Deutschland / Finnland, 2017, 75 Minuten.
Filmreife Lebensgeschichten
2011 sucht die georgische Filmemacherin Tinatin Gurchiani nach jungen Menschen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren, die bereit sind, ihre Wünsche, Träume und Sehnsüchte, etwas aus ihrem Alltag oder einfach nur ihr Lieblingsmärchen vor der Kamera zu erzählen. Scheu und nervös berichten die potentiellen Darsteller vor einer hellblauen Wand, die bessere Tage gesehen hat, in “The Machine Which Makes Everything Disappear” aus ihrem Leben.
Ramin ist 13 Jahre alt. Er lebt mit seiner älteren Schwester, seiner Mutter und dem Vater, der sich im Krankenhaus einer Operation unterziehen muss, in sehr bescheidenen Verhältnissen auf dem Land. Wir erkunden mit ihm die karge Winterlandschaft und ärgern junge Hunde. Eine junge Braut singt in ihrem Hochzeitskleid ein Lied über ihren Liebsten. Die 17-jährige Shukia bereitet sich auf ihr Studium vor. Wir treffen den Pokerspieler, der geliehenes Geld verzockt, einen jungen Gemeindevorsteher und die Greise in seinem Dorf in den Bergen. Ein Trinker ist auf Brautschau. Cinderella angelt mit dem Großvater.
Tinatin Gurchiani sammelt geduldig ihre Geschichten ein. Die Kamera ruht in den tiefen Furchen der Gesichter. Krieg, Vertreibung, tiefer Schmerz und Einsamkeit, Liebe und die Hoffnung auf ein besseres Leben – wir verweilen nur kurz, streifen Biographien und Plätze und dennoch gelingt Gurchiani eine intensive und respektvolle Verbindung mit Orten und Menschen.
The Machine Which Makes Everything Disappear (Manqana, romelic kvelafers gaaqrobs) von Tinatin Gurchiani, Länderfokus Georgien, Georgien / Deutschland, 2012, 101 Minuten.
Erzähl mir was von Oma
Seit dem Tod der Großmutter hat sich einiges angesammelt bei Tom. Enkelin Kimi Takesue ist bei ihrem Opa eingezogen, um ihm beim Entrümpeln zu helfen und ein Drehbuch fertigzustellen. Film-Freund Tom ist gerne bereit, mit dem einen oder anderen Rat zur Verbesserung der Story beizutragen. Ihm fehlt Herz–Schmerz in der Geschichte und vor allem im Titel. Beim Essen hat Tom die beste Idee – der Witwer isst oft und gerne.
In “95 and 6 to Go” begleitet Kimi Takesue den rüstigen alten Mann durch seinen Alltag auf Hawaii, wo sich der Nachfahre japanischer Einwanderer niedergelassen hat. Sie bittet den Großvater darum, ihm von ihrer Großmutter und seinen Eltern zu berichten. Kein ganz einfaches Unterfangen. Was ihn mit seiner Frau verbunden hat, bleibt lange im Ungefähren, er weiß wenig über sie zu berichten. Viele Interessen haben die beiden nicht geteilt. Alte Filmaufnahmen zeigen eine humorvolle und warmherzige Frau, die Kimi ein Versprechen schuldig bleiben muss.
Kimi Takesue ist geduldig und beharrlich. Wer noch die Möglichkeit hat, die Lebenserinnerungen der Großeltern mit der Kamera festzuhalten, sollte es tun, solange es noch geht.
95 and 6 to Go von Kimi Takesue, Internationales Programm, USA, 2016, 85 Minuten.
Sattelt die Steckenpferde
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es sind Miriam, Roosa, Elsa, Reeta, Jessica und Alisa auf ihren Steckenpferden. Immer wenn die letzten Kinder den Spielplatz verlassen haben, wird trainiert. Anmutiges Traben, mutige Sprünge über Hindernisse, Formation, Dressur, Schreiten im Kreis. An den Wochenenden treffen sich die finnischen Mädchen zu Steckenpferdwettkämpfen in Sporthallen und im freien Gelände.
Kein einfaches Hobby für Mädchen an der Schwelle zum Erwachsensein. Immer droht Gefahr, dass die falschen Leute von der Steckenpferdleidenschaft erfahren. Hohn und Spott lauern hinter Fenstern und der nächsten Straßenecke. In der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten geht es über Stock und Stein. Selma Vilhunen begleitet die Mädchen in “Hobbyhorse Revolution” zum gemeinsamen Training. Unruhiges Tänzeln vor dem Wettkampf, Befreiung im Parcours – der Sport und die aufwändige Herstellung und Pflege der Pferde helfen durch schwere Pubertätskrisen. Jedes Mädchen ist auf seine ganz eigene Art besonders.
Bei der nationalen Meisterschaft treffen die besten Reiterinnen der Szene und ihre Steckenpferde aufeinander. Wer hat das Zeug zum wahren Champion?
Hobbyhorse Revolution (Keppihevosten vallankumous) von Selma Vilhunen, Escaping Realities, Finnland, 2017, 90 Minuten.
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