DOK Leipzig 2011 – Frauen, Kühe und der Heilige Geist
Die Helden sind müde und krank – zwei Mal, 1982 und 1989 war Jocky Wilson Dart-Weltmeister. Nach dem Verlust des Arbeitsplatzes in einer der Minen von Kirkcaldy entdeckte er sein Talent für ein Kneipenspiel, das ihn zum Helden seiner schottischen Heimatstadt macht. Mitte der 1990 Jahre verschwindet Jocky Wilson aus der Öffentlichkeit. Julian Schwanitz begibt sich in seinem Kurzfilm Kirkcaldy Man auf Spurensuche und findet Geschichten über einen großen Spieler und einen großen Trinker. Aber die Erinnerung verblasst, die Kinder kennen ihn nicht mehr.
Es folgt Bram van Paeschens Empire of Dust. Ein Beitrag über dysfunktionale Großbaustellen.
Kühe sind die besseren Menschen
„Aber warum nicht einfach die Wahrheit?“ fragt das Festival-Motto in diesem Jahr. Weil sie herzzerreißend schmerzhaft schön sein kann wie in Peter Gerdehags „Women With Cows“. Zwei Schwestern, 12 Kühe und die Frage, was man zum Leben braucht um glücklich zu sein.
Britt ist fast 80 und lebt gemeinsam mit ihren Tieren auf dem elterlichen Hof. Gesundheitlich schwer angeschlagen ist sie auf die Hilfe ihrer jüngeren Schwester Inger angewiesen. Britt überfordert Inger und uns mit ihrer Spleenigkeit, ihrer maßlosen Liebe zu den Tieren, ihrem Leben im Dreck. Beschmiert mit Kuhdung läuft Britt gebeugt, verkrümmt, mit dem Kopf auf den Knien durch die Welt. Beim Melken schläft sie ein, die Kühe treten sie, fliegenübersäht sie schläft im Stall. Wirr und verfilzt steht das Haar vom Kopf. Ein Leben außerhalb der Norm, jenseits von Hygienestandards, aber mit einem klaren Fokus – satt und sauber sind keine Maßstäbe für Britt. Inger will das alles nicht mehr. Sie hasst das Melken. Sie ist erschöpft. Die Tiere sollen weg. Sie zieht sich zurück und kommt wieder. Die Frauen streiten und können nicht ohne einander.
Wir überschreiten mit Filmemacher Gerdehag eine Reinlichkeits- und Ordnungs-Sperre in unseren Köpfen. Fast meint man, die Tiere riechen zu können. Man will nicht, dass Britt den Mist mit den Händen aus dem Stall räumt. Aber dann genügt eine kurze Sequenz mit Inger bei einem Senioren-Nachmittag mit Alleinunterhalter, um die Perspektive zu verschieben. Paralysierte Rentner und ein Alleinunterhalter. Inger gefällt’s, für Britt wäre es der Tod. Ob das, was für Britt Leben bedeutet, am Ende gut gehen kann …?
http://vimeo.com/25895639
Von den Kühen ist es ein kurzer Weg zu den Seelenfängern. In PV Lehtinens Soul Catcher steht die Welt 14 Minuten lang Kopf. Menschen geben sich der Kamera preis, Ameisen krabbeln aus Sandlöchern und ein Klangteppich frisst sich ins Hirn. Kurz bevor man das Trommelfell verloren geben möchte ist Schluss.
Manchmal kommen sie wieder …
Dann wieder Milchwirtschaft und Kühe, was meine langjährige These stützt, dass jede Auswahlkommission unbewusst ein Leidtier sucht und findet, dass den geneigten Filmfreund durch die Tage begleitet. Die Ställe sind sauber, die Berge sind hoch und die Menschen tief gläubig. Aber wehe, wenn es dunkel wird. Wenn die Nebel aus den Tälern aufsteigen, dann kommen sie wieder. Arme Seelen – Die Wiederkehrer, die keine Ruhe finden. Die zurück müssen an den Ort ihrer Missetaten, die sie im Leben begangen haben. Sie sind Schatten, die in den Stuben und Kammern auftauchen. Die ihre kalte Hand den Lebenden auf die Brust legen. Die Älpler beten für die ruhelosen Seelen. Edwin Beeler sammelt die Geschichten seiner Schweizer Heimat ein, bevor sie in Vergessenheit geraten und mit den Alten aussterben.
Von den Wiederkehrern auf direktem Weg zum Herrn: Gunnar Goes God und wir gehen mit.
Gunnar Hall Jensen ist so mittel. Jahrgang 1963, verheiratet, zwei Kinder, ein Hund, zwei Autos, Sommerhaus am Meer. So richtig gut geht es ihm damit aber nicht. Gunnar schnappt sich drei ausgebrannte Freunde und macht sich auf den Weg Gott zu finden. Ziel ist das Kloster St. Macarius in der alten Wüste Sketis, irgendwo zwischen Kairo und Alexandria, das seit dem 4. Jahrhundert durchgehend von Mönchen bewohnt wird. Gunnars hyperaktiver Kameramann Zulfikar Fahmy findet meditative Bilder für eine Welt, in der die vier Protagonisten kurz zu Gast sein dürfen, aber Zuhause ist es eben doch am schönsten. Gunnar ist ein smartes Kerlchen, wir sehen ihm gerne 92 Minuten bei der Sinnsuche zu und das ist mehr, als man von den meisten Mitmenschen behaupten kann.
Die Filme:
Kirkcaldy Man von Julian Schwanitz und Empire of Dust von Bram van Paesschen laufen noch einmal am Sonntag, 23.10., 17:30 Uhr in der Cinémathèque in der naTo.
Women with Cows von Peter Gerdehag.
Soul Catcher von PV Lehtinen und Arme Seelen – Die Wiederkehrer von Edwin Beeler laufen noch einmal am Samstag, 22.10., 22:00 Uhr in der Schaubühne Lindenfels.
Gunnar Goes God von Gunnar Hall Jensen läuft noch einmal am Sonntag, 23.10., 20:00 Uhr in der der Cinémathèque in der naTo.
- DOK Leipzig 2011 – Claes, Torstein, Jimi, Mehmet und die anderen
- Alles muss raus