DOK Leipzig 2011 – Claes, Torstein, Jimi, Mehmet und die anderen

Claes ist Rentner. Claes ist einsam. Claes hat Angst. Claes’ Angst ist so allumfassend, dass er Medikamente nehmen muss. Das Haus kann er trotzdem nicht verlassen. In Martina Carlstedts 23-minütigem Kurzfilm „Claes“ ist die Welt auf wenige Quadratmeter zusammen geschrumpft. Ein sauberes und wohl geordnetes Leben zwischen neuem Sessel, Küchenzeile, Bett und Fernseher. Wie lang wird ein Tag, wenn er in vier Wände eingesperrt ist? Claes würde gerne Kaffee trinken gehen oder ins Kino. Aber es könnte ja regnen. Vielleicht morgen? Hoffnung gibt es immer.

Sechs Jahre begleitet die norwegische Fotografin und Filmemacherin Ellen Ugelstad ihren Bruder Torstein mit der Kamera. Entstanden ist der Film „Indian Summer“, eine visuelle Liebeserklärung der Schwester an den kranken Bruder. Phasen schwerer psychotischer Schübe, verbunden mit langen Klinikaufenthalten, wechseln mit Zeiten relativer Gesundheit. Torstein kämpft mit seinen Dämonen, der dauerhaften Medikation und den Zuständen in der betreuenden Klinik. Ellen Ugelstad führt uns nahe an ihren Bruder und seine Welt heran, deren innere Bilder wir nur erahnen können, und das ist viel. Schwester und Bruder erlauben uns, sie ein Stück zu begleiten.

Filme wie „Indian Summer“ sind mehr als ein Angebot an die Zuschauer den Horizont zu überprüfen. Für einige Minuten aus der eigenen hermetischen Welt herauszutreten und den Lebensspuren anderer zu folgen. Es ist der große Verdienst der Filmemacher, Geschichten aufzuspüren und Protagonisten zu finden, die bereit sind uns Anteil nehmen zu lassen, sich zu zeigen, wie sie sind und dabei mit Filmschaffenden zusammenzuarbeiten die kein Interesse daran haben sie vorzuführen. Ein Angebot, dass wir wahrnehmen sollten. Das DOK Leipzig zeigt „Indian Summer“ und „Claes“ in einer Doppelvorstellung noch einmal am Freitag.

Gier frisst Hirn

Nach der kontemplativen Einstimmung in den Kinotag war es Zeit für Irre in Nadelstreifen. Kennt ihr Mehmet Göker? Ihr solltet ihn kennenlernen! Mehmet Göker ist der „Versicherungsvertreter“ und der Filmtitel ist Programm. Ein Mann mit messianischem Sendungsbewusstsein und einer treuen Gefolgschaft. Göker ist Geschäftsmann, der in letzter Zeit etwas Pech hatte. Kein Problem für den Self-Made-Man. Klaus Stern hat sich auf Spurensuche begeben und Göker seit 2006 immer wieder mit der Kamera begleitet. Stern ist ein Filmemacher, der von sich selbst sagt, sein Spezialgebiet sei der Größenwahn, was er mit Dokumentationen wie „Henners Traum“ und dem mehrfach ausgezeichneten Film „Weltmarktführer“ hinlänglich bewiesen hat. Die Dramaturgie des Films wirkt, wie der Protagonist, etwas sprunghaft. Das macht aber nix. Wir haben Menschen wie Mehmet Göker verdient und manchmal kommen sie wieder …

Es folgten vier Minuten für zwei tote Wale vor kalifornischer Strandkulisse in grobkörnigem schwarz-weiß und eine Meditation über eine Million Jahre altes Eis und die Unendlichkeit des Atlantischen Ozeans. Je später der Abend, desto gefälliger wurde der Gedanke, nur eine Finnin habe einen Film wie „Aranda“ drehen können. Wir gehen an Bord des gleichnamigen Forschungsschiffs und werden Teil einer Gruppe von Ozeanographen und Meeresbiologen. Der Blick ist auf den Horizont gerichtet. Kamera und die Bewegung des Wassers werden eins. Der Rest ist Staunen und Schweigen.

Die Filme:

Claes von Martina Carlstedt und Indian Summer von Ellen Ugelstad. Beide Filme laufen noch einmal am Freitag, 21.10., 22:30 Uhr, im CineStar 5.

Versicherungsvertreter von Klaus Stern läuft noch am Donnerstag, 20.10., 22:00 Uhr, in der Schaubühne Lindenfels und am Samstag, 22.10., 10:30 Uhr im CineStar 7.

Back To Land von Tijana Petrović. Aranda von Anu Kuivalainen. Beide Filme laufen noch einmal am Freitag, 21.10., 11:00 Uhr im CineStar 8 und am Samstag, 22.10., 17:30 Uhr im Passage Kino.