Berlinale 2012 – Toter Mann was nun?

Wie in einer großen Familie gibt es auf einem großen Filmfestival Regeln. Und der Mensch ist anpassungsfähig. Aus der Höhle hat er es, Wunder der Evolution, direkt in das nächste Kino seines Vertrauens geschafft. Damit ihm da nicht zu wohl wird, erlässt man Verbote. Iss nicht, trink nicht, achte auf die Größe deiner Tasche mit deinen Arbeitsgeräten, bewege dich innerhalb von 1,2 Minuten von A nach B, stelle dich rechtzeitig an, komm‘ nicht zu spät, heb‘ deine Hand, rutsch‘ rüber, sei dankbar. Um keine Langeweile oder quälende Routine entstehen zu lassen, muss der Mensch regelmäßig befreit werden. Daher werden ab sofort täglich an geheimen Orten in Berlin Kleiderordnungen zum jeweiligen Festivaltag ausgelegt. Die Kostümierung des Tages darf unter keinen Umständen an Dritte kommuniziert werden. Zuwiderhandlungen werden mit 380-minütigen Originalfassungen eines verschollenen Frühwerkes eines heute nicht mehr bekannten Regisseurs aus dem befreundeten Ausland bestraft. Wie aber aus gut informierten Kreisen zu erfahren war, tragen am morgigen Vormittag alle Kollegen in der ersten Pressevorführung des Tages im Berlinale-Palast pinkfarbene Hasenohren.

Apropos Augen auf …

Als Satché (Saül Williams) am Morgen aufsteht, weiß er, dass sein letzter Lebenstag angebrochen ist. Alle wissen es. Familie, Freunde, Nachbarn nehmen Abschied, ehren den toten Mann, beschenken und beschimpfen ihn. Singen und tanzen durch die Straßen. Bedächtig bewegen sich Kamera und Hauptdarsteller in diesen Tag hinein. Frauen weinen, Männer nicken. Satché weiß, was ihn erwartet, dennoch ist er aus dem Ausland in die Heimat zurückgekehrt. Er trinkt mit Freunden, spielt Spielchen mit einer Geliebten, verzweifelt, bricht zusammen, steht wieder auf. Der Onkel probt mit ihm die Leichenwaschung. Die Ehefrau gibt sich spröde, versöhnt sich dann aber doch.

Was nützt das Töten in Gedanken?

Was würde man tun, am letzten Tag des Lebens? Was wäre bedeutungsvoll genug für die letzten Stunden? Wir sind nah bei Satché. Die Kamera folgt ihm, öffnet den Blick für Details und dennoch bleibt uns dieser Totgeweihte fremd. Wir ahnen, dass uns dieses Schicksal nahe gehen soll und fremdeln doch mit der Geschichte, in der sich ein ausdrucksstarker Hauptdarsteller durchaus einen Darstellerbären erspielt haben könnte. Filmemacher Alain Gomis legt in „Aujourd’hui“ viele Spuren aus, macht mit der Ankündigung des nahenden Todes ein finales Versprechen und kommt doch vom Weg ab. Sein angedeutetes Schicksal berührt nicht, und das sollte es, oder nicht? Die Welt um Satché versinkt in Chaos, Wahnsinn, Hass und Gewalt. Die Welt interessiert sich nicht für ihn. Einer mehr, einer weniger, egal. Der Kreislauf des Lebens dreht sich weiter, mit ihm oder ohne ihn. Wer erinnert sich an uns, wer trauert, wem sind wir lieb und teuer?

Kein Film muss dem Zuschauer alles enthüllen, keine Geschichte muss alle ihre Geheimnisse preisgeben. Der Film behautet das Ende des Protagonisten zu kennen, glauben müssen wir ihm nicht.

Gehst Du zum Weibe …

Juliette Binoche als Hauptdarstellerin eines Films ist immer ein Versprechen auf außergewöhnliches Kino und in „Elles“ (Das bessere Leben) löst sie es einmal mehr. In Malgoska Szumowska Panorama-Beitrag spielt Frankreichs Oscar-Preisträgerin eine Pariser Journalistin, die mit der Fertigstellung eines Portraits über zwei Studentinnen, die ihren Lebensunterhalt mit Prostitution verdienen, kämpft. Die Gespräche mit den jungen Frauen, ihre selbstbewusste Entscheidung, ihr Schmerz, ihre Coolness, ihre Einsamkeit – alles nimmt Anne im wahrsten Sinne des Wortes mit nach Hause zu Ehemann und ihren beiden Söhnen.

Es ist der letzte Tag vor der Abgabe des Artikels. Annes Gedanken kreisen um die Gespräche mit den beiden Frauen. Wir sehen die Kunden irgendwo zwischen Spiel, Sehnsucht nach Berührung, Einsamkeit und sexueller Gewalt. In Annes Kopf mischen sich Dichtung und Wahrheit. Ihre eigenen Phantasien und Sehnsüchte treiben sie um. Juliette Binoche spielt Anne ungeschminkt zwischen hyperaktiver Wachheit und totaler Erschöpfung. Fast dokumentarisch hetzt man mit ihr durch die Pariser Wohnung. Kämpft mit einem Kühlschrank, dessen Tür sich nicht schließen lassen will. Man möchte ihr immer weiter zusehen, auch wenn nicht jede Phantasie zwangsläufig auf die große Kinoleinwand projiziert werden muss.

Zu einem thematischen Renner scheinen sich Filme über die Entführung kleiner Kinder und ihr jahrelanges Martyrium in Gefangenschaft zu entwickeln. Die Berlinale zeigt „A moi seule“ (Coming Home) von  Frédéric Videau im Wettbewerb.

Gaelle ist es nach Jahren der Gefangenschaft gelungen zu fliehen. Ihr Entführer öffnet die Tür und lässt sie geh’n. Fassungslos, dass sie nicht zu ihm zurückkehrt, nimmt er sich das Leben. In Rückblenden sehen wir das Zusammenleben der beiden. Gaelle in einem Kellerraum, der nur nach Dienstschluss und am Wochenende geöffnet wird. Gemeinsame Mahlzeiten, Schreibübungen, Streit, Nachtwanderungen durch den Wald. Das Leben in Freiheit gestaltet sich für Gaelle schwieriger als erwartet. Die Eltern sind getrennt. Die Mutter kennt ihr Kind nicht mehr. Der Vater gibt den einsamen Trinker. Am Ende wird Gaelle noch einmal fliehen.

Auch der zweite Wettbewerbsfilm des Tages lässt einen mit einem entschiedenen „Naja“ zurück. Was will man mehr?

Wie geht’s dem Don? Es gibt Hoffnung.

Die Oscar-Nominierung des Tages geht an die Idee, nur noch Mikrotaschen im Berlinale-Palast zu gestatten.

 

 

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