Berlinale 2011 – Und morgen seid ihr alle tot
Erfolgreicher Mimik-Minimalismus mit Gerard Butler in Ralph Fiennes Regiedebüt „Coriolanus“, Wackelbilder mit Todgeweihten, eine liebreizende Komödie aus Frankreich und ein Bärenkandidat – Berlinale Tag fünf.
Es macht sich ja keiner eine Vorstellung davon, was sich in fünf Tagen Berlinale bei psychisch instabilen Zeitgenossen so alles anstaut und dann durch den Verzehr kakao-, fett- und zuckerhaltiger Lebensmittel während der Erstellung eines Tagesberichtes kompensiert werden muss. Das wiederum führt zu nässenden Hautauschlägen und Altersakne im Gesicht. Dies wiederum sorgt für noch mehr seelische Zerrüttung und weiterhin erhöhten Konsum industriell gefertigter Lebensmittel. Ein Teufelkreis! Glücklich all jene, die (wie ich) über ein unerschütterlich sonniges Gemüt verfügen, auch wenn dazu keinerlei Veranlassung gibt.
Manche Filme sind ja so, dass es einen kaum im Kinosessel hält, und das nicht vor Spannung. Aus Gründen (möglicherweise eine Geste des Respekts vor der Arbeit des Filmemachers und der Crew) zwingt man den Körper 99 Minuten in rotes Plüsch, ohne die innere Unruhe motorisch auszuagieren und ohne Laut zu geben. Wenn dann die Kameraführung irgendwo zwischen gewollt unkoordiniert und irre pendelt, und eine Handlung bestenfalls zu erahnen ist, dann ist man bereits am späten Vormittag schwer angeschlagen, und dabei hat der Kino-Tag doch gerade erst begonnen.
„V Subbotu“ (Innocent Saturday / An einem Samstag) von Alexander Mindadze ist so ein Fall – die wahre Geschichte einer missglückten Flucht. Es ist Samstag der 26. April 1986. In der Nacht ist ein Reaktorturm des Kernkraftwerks Tschernobyl explodiert. Der junge Parteifunktionär Valerij (Anton Shagin) weiß, dass jede Sekunde zählt, dennoch wird es ihm nicht gelingen, die dem Tode geweihte Stadt mit seiner Geliebten und einigen Musikerfreunden zu verlassen.
Die Konfusion der Beteiligten visualisiert der Filmemacher mit sinnlosem Aktionismus seiner Darsteller. Irgendjemand rennt immer, und die Kamera wackelt wild dazu. Wir Blicken in die Gesichter von zum Tode Verurteilten, und das einzige was sich dabei regt, ist der Wunsch, es möge rasch vorübergehen. Die verlorene Generation tanzt derweil weiter ihrem Untergang entgegen, und die Musik spielt und spielt und spielt. Zwischendurch gibt es eine zünftige Schlägerei, ein Besäufnis und ein wenig gierigen Sex – Samstag halt.
Mit Sorge mag der eine oder andere dem nächsten Wettbewerbsbeitrag entgegen gesehen haben, und soviel scheint sicher zu sein, der Film spaltete die Zuschauer. Die einen blieben fasziniert bis zum bitteren Ende, einige mussten vorzeitig die Segel streichen. Liebe Filmfreunde, die wir gemeinsam in den vergangenen Tagen schon so viel durchlitten haben, falls ihr euch fragen solltet, ob es mich erneut nur aus Chronistenpflicht im Saale hielt, lautet die Antwort: Nein mit Ausrufezeichen! Ralph Fiennes (Regie, Hauptrolle und Produktion) ist mit seinem Regiedebüt „Coriolanus“ ein bärenwürdiger Wettbewerbs-Beitrag gelungen. Der Film basiert auf dem gleichnamigen, um 1607 von William Shakespeare verfassten Theaterstück.
Rom im vierten Jahrhundert vor Christus. Das Volk hungert und rebelliert gegen die Mächtigen im Staat. Der hochmütige General Caius Martius „Coriolanus“ (Ralph Fiennes) führt die römischen Truppen siegreich gegen das Heer der aufständischen Volsker unter ihrem Anführer Tullus Aufidius (Gerard Butler). Coriolanus könnte nach den Jahren des Kämpfens in die Politik gehen, wie es seine machtbewusste Mutter Volumnia (Vanessa Redgrave) für ihn vorgesehen hat, aber der Krieger scheitert an seiner Verachtung für das einfache Volk. Er wird lebenslang aus Rom verbannt. Coriolanus sinnt auf Rache und verbindet sich mit seinem ehemaligen Widersacher Aufidius. Fiennes verlegt die Handlung in die Jetztzeit, die Dialoge bleiben unverändert.
Es mag seltsam anmuten, die hochgerüsteten Kampftruppen im blutigen Häuserkampf mit dem Gegner zu sehen. Shakespeare zu hören, während Granaten in die Ruinen einschlagen und Menschen im Kugelhagel sterben. Aber Krieg ist Krieg. Der Chor sind heute Breaking News, und vor der Wahl durch das Volk muss sich der angehende Politiker dem ungeliebten Straßenwahlkampf stellen. Da wird nicht einfach nur Hochkultur rezitiert, sondern jede Nuance der Sprache, jede Betonung ist im Hier und Jetzt angekommen. Gerard Butler verfügt über exakt einen Gesichtsausdruck für 122 Minuten Film, nennen wir ihn den „300“-Blick, das reicht aber völlig. Ralph Fiennes, der die Rolle des Coriolanus vor Jahren erstmals auf der Bühne über- und angenommen hat, ist die obsessive Auseinandersetzung mit dem Stoff in Fleisch und Blut übergegangen. Der oft etwas fragil anmutende britische Mime strotzt hier vor Aggression und Virilität, sein Widerpart Butler sowieso.
Eine Liga für sich: Vanessa Redgrave, als vom Ehrgeiz zerfressene Eislaufmutter, die ihren Sohn lieber sterben sehen möchte, als keinen großen Krieger gezeugt zu haben. Man muss die Texte Shakespeares nicht in Gänze durchdringen, um den Film verstehen zu können. Fiennes hat keine Angst vor dem Spektakel, Blut und bombastischer Orchestrierung. Ob die Internationale Jury den Film auch so gesehen hat oder doch lieber den Film verlassen hätte? Am Samstag sind wir schlauer.
Der Tag endete mit einer luftig leichten französischen Komödie, die außer Konkurrenz im Wettbewerb gezeigt wird. „Les femmes du 6ème étage“ (Service Entrance) von Philippe Le Guay spielt im Paris der frühen 60er Jahre. Börsenmakler Jean-Louis Joubert (Fabrice Luchini) und seine kapriziöse Gemahlin Suzanne (Sandrine Kiberlaine) führen ein standesgemäßes Leben in der französischen Hauptstadt. Für die Annehmlichkeiten der gehobenen Gesellschaft sorgen spanische Hausmädchen, die in der sechsten Etage des Joubertschen Stadthauses in bescheidenen Dienstmädchenzimmern leben. Der Banker mit dem butterweichen Herzen ist immer häufiger zu Gast in dieser für ihn fremden und vor allem sehr temperamentvollen Welt. Aus Gründen muss der brave Jean-Louis eine der freien Kammern beziehen, was zu allerlei Verwicklungen führt. Feiner Humor, liebevolle Ausstattung – ein Film für trübe Tage und davon gibt es reichlich.
Und morgen? Schaun wir mal … Kinder wären gut!
- Berlinale 2011 – Ein Tag in 3-D und ein Film für Pina Bausch
- Berlinale 2011 – Und die Welt steht still