Berlinale 2011 – Schlafkrankheit, eine große Familie und eine Kopfverletzung

Richtige Männer greifen nur zu Nadel und Faden, um eine klaffende Platzwunde selbst zusammenzuflicken. Welche Folgen das für eine dysfunktionale Familie hat, warum man manchmal nur finnisch versteht und noch mehr Kinder in Wettbewerbsbeiträgen – der Berlinale dritter Tag.

Das Leben des Berufskinogängers hängt dieser Tage an einem Bändel und einer Plastikkarte. Ohne diese Karte ist der Mensch nichts auf der Berlinale. Wenn die Karte dann auch noch die richtige Farbe hat, öffnen sich wie von Geisterhand Türen zu großen Kinosälen. Davor sind, je nach Lichtspielhaus, nur ein bis fünf Kontrollposten zu überwinden. Wer sich das Leben leicht machen möchte, hängt sich seine Akkreditierung am Tag der Abholung um den Hals und legt sie auch zum Duschen nicht mehr ab. Um das Passieren an den Kontrollen zu erleichtern, klemmt man sich die Karte zwischen Daumen und Zeigefinger und wedelt oberhalb des Brustbeins damit herum. Wer seine Karte verliert, schnappt sich seinen Schlafsack und schlägt sein Nachtlager vor einem der Ticketschalter auf.

Apropos schlafen: Den Kinotag eröffnete „Schlafkrankheit“ eine deutsch-niederländisch-französische Co-Produktion von dem aus Marburg an der Lahn stammenden Regisseur Ulrich Köhler („Montag kommen die Fenster“).

Ebbo (Pierre Bokma) und Vera Velten (Jenny Schily) planen nach vielen gemeinsamen Jahren in Afrika die Rückkehr nach Deutschland. Allgemeinmediziner Ebbo betreut ein Projekt gegen die Schlafkrankheit so erfolgreich, dass es kaum noch Patienten gibt. Die gemeinsame Tochter lebt in Deutschland im Internat und droht den Eltern vollständig zu entgleiten. Mutter und Tochter reisen vor und Ebbo schafft den Absprung nicht.

Jahre später, Ebbo ist immer noch da, reist Alex Nzila (Jean-Christophe Folly), französischer Tropenmediziner mit kongolesischen Wurzeln, im Auftrag der WHO nach Afrika, um das Projekt von Ebbo zu evaluieren. Er ist dort nicht willkommen und trifft auf einen Mann, dem nicht nur seine Krankheit und die Patienten abhanden gekommen sind.

Köhlers Film übt Kritik an der Praxis der Entwicklungshilfe, zeigt entfremdete Männer, die zu weit weg sind von ihren Wurzeln oder sie ganz verloren haben, und zeichnet ein Bild von Menschen, die in einer Nische Teil Afrikas sind, ohne jemals dort anzukommen, sondern es sich in einer privilegierten Nische bequem gemacht haben – trotz oder gerade wegen aller Widrigkeiten auf die sie immer wieder treffen. Sein Hauptdarsteller Pierre Bokma verkörpert den getriebenen Mediziner mit zunehmender fiebriger Unruhe. Ein Mann spielt cool und hat doch schon lange nichts mehr im Griff. Leider entgleitet Köhler der Fokus seiner Geschichte immer wieder, das führt auch zu einer gewissen Unentschlossenheit beim Publikum.

Die Deutschen essen Schweinefleisch und Menschen und in den Pausen zwischen den Mahlzeiten stempeln sie Formulare. „Almanya – Willkommen in Deutschland“ von den Schwestern Nesrin und Yasemin Samdereli heißt die Komödie zur Integrationsdebatte. Cousine Canan (Aylin Tezel) erzählt ihrem sechsjährigen Neffen Cenk (Rafael Koussouris) die Geschichte von Großvater Hüseyin (Fahri Yardim / Vedat Erincin), der in den 60er Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland kam und Jahre später sein Familie zu sich holte. Hüseyin hat in der alten Heimat ein Haus gekauft, und so bricht die ganze Familie auf, um den Besitz in Augenschein zu nehmen.

Nesrin und Yasemin Samdereli ist ein liebevoller Blick auf deutsche Schrulligkeit zu Zeiten des Wirtschaftswunders gelungen. Hüseyin, Fatma und ihre Kinder erobern sich ihren Platz in einem fremden Land mit einer Sprache, die in ihren Ohren mehr als nur spanisch klingt. Die beiden Filmemacherinnen haben eigens für den Film eine Fantasiesprache entwickelt. Klingt wie Finnisch, nur mit noch mehr Umlauten. Die tatsächlich deutschen Dialoge fallen dagegen leider immer wieder ab und wirken seltsam hölzern. Leichtigkeit und Schwung werden so immer wieder ausgebremst. Sei es aber darum: Alles, auf dem nicht Dichtung und Wahrheit draufsteht und Thilo Sarrazin drin steckt, kann der Frage nach Integration oder Nichtintegration nur gut tun. „Almanya – Willkommen in Deutschland“ läuft im Wettbewerb außer Konkurrenz.

Und dann ging es zum Abschluss des heutigen Wettbewerbstages noch einmal so richtig zur Sache. „Yelling To The Sky“ (Schrei zum Himmel), Buch und Regie Victoria Mahoney, zeigt uns das Leben von Sweetness O’Hara (Zoë Kravitz), und da gibt es wenig zu lachen, dafür reichlich Sex, Drogen, Gewalt, Blut und Tod. Auf der Straße, in der Schule, zu Hause, überall gibt es die Fresse voll und das im wörtlichen Sinne. Ihr weißer Vater säuft und hängt mit den Obdachlosen der Gegend ab, die Mutter zieht sich apathisch in sich selbst zurück und wandelt wie ein Zombie durch das Haus. Die schwangere Schwester haut sie aus einer Straßenschlägerei heraus, um sie dann im Stich zu lassen.

Sweetness beschließt, ihr Leben in die Hand zu nehmen und gibt alles mit gleicher Münze zurück. Zeit für einige Weisheiten aus dem Erfahrungsschatz des Lebens: Gewalt erzeugt neue Gewalt, es gibt kein richtiges Leben im falschen und: Kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder, große Sorgen!

Die Kamera hängt bei all dem am Gesicht von Zoë Kravitz, und sie tut gut daran. Der Rest der Geschichte zerfasert und zerfranst immer weiter. Victoria Mahoney will mit ihrem Langfilm zuviel und verliert dabei aus den Augen, was das eigentlich gewesen sein könnte. Als der Vater eines Nachts mit klaffender Platzwunde von einer Sauftour nach Hause kommt, flickt er sich selbst im Badezimmer wieder zusammen. Derartige Bastelarbeiten sollte man möglicherweise Rambo überlassen. Die Naht führt aber zu einer Befriedung der häuslichen Situation und wendet doch noch alles zum Guten. Eine ebenso überraschende wie wenig glaubwürdige Katharsis.

Und morgen? Morgen vielleicht wieder einmal Frauenfragen, vielleicht noch mehr Kinder und Tiere wären auch willkommen!