Berlinale 2017 – Männer! Heute ist ein guter Tag zum Sterben
Unbehaglich ist die Stimmung in Martas Familie. Irgendetwas stimmt da nicht. Die Mutter kommt spät, Vater Mario ist besorgt. Marta ritzt sich. In Teresa Villaverdes portugiesischem Sozialdrama „Colo“ schauen wir viel aus dem Fenster oder durch Fenster in eine Wohnung hinein. Nachts. Dazu Flugzeuglärm und Verkehrsgeräusche.
Ein Vogel stirbt
„Wirklichkeit ist die größte Scheiße ever“, wird Martas anorektische, schwangere Freundin auf Droge im Verlauf des Filmes sagen. Sie hat recht. Mario ist arbeitslos. Die Mutter hat mehrere Jobs. Der Vater sammelt Müll auf dem Dach ein. Isst einen weggeworfenen Burger. Marta gibt weiter den unsicheren Teenager in der Findungsphase. Es folgt eine Menge sich und andere verletzendes Verhalten.
Mario sitzt mit einem Eimer auf dem Kopf in der Badewanne. Der Strom wird abgestellt. Mario eskaliert ein bisschen. Zieht durch die Nacht. Läuft sich die Füße wund. Zurück in der Wohnung verzehrt er schmatzend eine große Tomate mit grobem Salz. Die Familie zerbricht. Marta bleibt zurück. Ein Film, so lähmend, wie seine gesellschaftliche Zustandsbeschreibung. Und dann ist nach 136 Minuten einfach alles vorbei.
Mann ohne Eigenschaften
New York im Winter. Der erfolgreiche Schriftsteller Max Zorn (Stellan Skarsgård) ist gemeinsam mit seiner jungen Geliebten Clara in die US-Metropole gereist, um sein neuestes Buch vorzustellen. Dort trifft er seine ehemalige Geliebte Rebecca (Nina Hoss) wieder. Ihre gescheiterte Liebesgeschichte hat ihn zu seinem Buch inspiriert. Die erfolgreiche spröde Anwältin aus Dresden willigt nach kurzem Zögern ein, den Mann, mit dem sie Kinder haben wollte, zu sehen. Man unternimmt eine gemeinsame Ausfahrt “ans Ende der Welt”.
Mit „Return to Montauk“ (Rückkehr nach Montauk), basierend auf der 1975 veröffentlichten Erzählung „Montauk“ von Max Frisch, hat Volker Schlöndorff nach “Homo Faber” erneut eine Geschichte des schweizer Schriftstellers verfilmt. In der autobiografischen Erzählung beschreibt Frisch den 11. und 12. Mai 1974. Er verbringt ein Wochenende mit einer jungen Frau und blickt zurück auf seine zahlreichen Liebschaften und gescheiterten Beziehungen.
Wie häufig in Frischs literarischem Werk begegnen wir einem modernen Intellektuellen – messerscharf in der Analyse, egozentrisch, entscheidungsschwach und unsicher in Bezug auf das eigene Selbstbild. Der alternde isolierte Einzelgänger sehnt sich nach einer „echten“ Beziehung, ohne selbst in diese investieren zu wollen. War früher nicht alles besser? Tiefer? Eifersüchtig und besitzergreifend wacht er über die jungen Partnerinnen.
Nichts als Gespenster
Frischs Frauentypen sind dabei häufig ebenso eindimensional und austauschbar, wie seine männlichen Protagonisten. Schlöndorff reproduziert diese sehr kultivierten Stereotype in “Return to Montauk”. Max Zorn ist ein feinsinniger und jungenhafter Geschichtenerzähler, mit Skarsgård (Kraftidioten – In Order of Disappearance , Nymphomaniac Volume I, Cinderella) gewinnend besetzt. Die Frauen himmeln ihn an. Anwältin Rebecca lebt alleine mit ihren drei Katzen in einem luxuriösen Appartement. Karriere macht einsam. Zorn hat was von der Welt gesehn. Und wie schön er davon erzählen kann. Seine Frauen werden ihm Mutter und Geliebte – Freundin Clara hat monatelang alleine in New York die Präsentation des Buches vorbereitet. Lieb und anschmiegsam sollen die Frauen sein, um die unsichere Sexualität des Mannes nicht anzugreifen. Die Frau wird zum Objekt der Untreue. Wie soll ein Mann sich so vieler Verlockungen erwehren? Die Angst vor der Frau steht bei Max Frisch – so auch bei Schlöndorffs Max Zorn – für die Angst vor dem nahenden Tod – und wann naht er nicht!?
Rebecca, Clara, Lindsey – alle Frauen sind austauschbare Geister. Ego-Booster zur eigenen Selbstüberhöhung. Erwachsene Menschen führen erwachsene Gespräche mit simuliertem Tiefgang. Dinner, Wein, gedämpftes Licht und Jazz-Gedudel. Zur Auffrischung gemeinsamer Erinnerungen Bob Dylan. Die Frau weint, der Mann ist ratlos. Ein Film für eine kultivierte Sonntags-Matinée.
Da waren es nur noch drei …
Und dann kommt doch noch Schwung in den zähen und aseptischen Wettbewerbs-Mittwoch. Álex de la Iglesia schickt Blanca Suárez, Mario Casas, Carmen Machi, Secun de la Rosa und Jaime Ordóñez außer Konkurrenz auf ein Getränk in „El bar“ (The Bar). Nach einem Vorspann voller monströs vergrößerter Pilze, Keime und Parasiten befinden wir uns mitten auf einem belebten Platz im Zentrum von Madrid. In einer Kaffee-Bar treffen zehn Menschen aufeinander – da fällt ein Schuss. Vor der Bar bricht ein Mann zusammen. Innerhalb von Sekunden ist der Platz menschenleer. Keine Polizei, keine Rettungskräfte. Einem Ersthelfer aus der Bar wird direkt das Gehirn weggeballert. In der Bar bricht Panik aus.
Was ist passiert und wer von neun Verbliebenen wird den Vormittag überleben? Terrorismus, ein geheimes Regierungsprojekt, Außerirdische, biologische Kampfstoffe – alles scheint möglich. Der Feind lauert nicht nur vor der Tür, sondern auch innerhalb der Gruppe. Gewalt und Wahnsinn führen von der Bar in den Keller und weiter abwärts in die Kanalisation. Kein Film für Hygienefanatiker.
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