Berlinale 2015 – Was lange währt, wird auch nicht gut
Es gibt Filmvorführungen, die man bereits mit einem unguten Gefühl betritt. Es können Bilder, eine Kurzbeschreibung, der Regisseur, ein Darsteller, der Titel, das Thema und vor allem die Laufzeit des Films sein, die schon vor Beginn der Projektion ein leichtes (bis mittelschweres) Unwohlsein auslösen. Vor allem der Faktor Zeit darf nicht unterschätzt werden. Filme können die unangenehme Eigenschaft haben, ihre eigentliche Laufzeit um ein Vielfaches zu verlängern. Mit jeder Minute (die sich dehnt und dehnt und zieht und aufbläst) verkürzt sich die eigene Lebenszeit um Stunden, wenn nicht sogar Tage. Es sollen Menschen nach mehrstündigen Kinoerlebnissen schlohweiß den Saal verlassen haben. Warum harrt man dennoch aus? Die Macher solcher Lebenszeitfresser zwingen einen mit einem Taschenspielertrick in den Sessel. Man möchte den Moment nicht verpassen, in dem aufgeblasene Leere, visuell überhöhte Ideenlosigkeit und all die losen, metaphorisch überladenen Enden endlich zusammengeführt werden. Und was passiert? Nichts.
Der Wettbewerbstag „Pod electricheskimi oblakami“ (Under Electric Clouds) von Alexey German Jr. beschert 130 Minuten genau das. Wir befinden uns in einer sehr nahen Zukunft. Die UdSSR gibt es nicht mehr. Das Neue kann die Lücke nicht füllen. Ein Krieg wird erwartet. Wir bewegen uns durch Ruinen, Verfall, Eis und Sturm. Menschen begegnen sich, in der Vergangenheit, in der Gegenwart (die die Zukunft ist), Tiere sterben. Keiner stellt eine Verbindung zum Anderen her und trotzdem hängt alles mit allem zusammen. Beziehungslosigkeit, Einsamkeit, Nasenbluten und die Toten, die in den Träumen zu uns sprechen.
Wir bewegen uns durch die Ruine einer Großbaustelle. Leuchtschrift am trüben Himmel. Ein Mann irrt umher. Er kann die Sprache der anderen Menschen nicht. Er haust unter einer Plastikplane. Sein einziger Besitz ist ein defekter Ghettoblaster. Dialogfetzen. Menschen kommen und gehen. Ein Saxophon spielt. Ein Mann tötet eine Frau. Der Ghettoblastermann erschlägt den Täter. Die Welt ist ein öder Ort. Unwirtlich. Sterben ist lang und qualvoll. Der Mann sucht einen Reparaturservice für das defekte Gerät. Als er das aussprechen kann, ist er erlöst. Nächstes Kapitel.
Eine Frau mit Hörgerät und großen Ohrringen kehrt gemeinsam mit ihrem Bruder nach Hause zurück. Der Nachlass des toten Vaters muss geregelt werden. Er war Besitzer der Baustelle. Das große Haus ist feucht. Die Pferde liegen tot im Stall. Der Roboter des Vaters funktioniert wieder und rollt von Zimmer zu Zimmer. Der Bruder ist ein Würstchen, das keiner ernst nimmt. Wenn die Sascha nichts hören will, nimmt sie ihr Hörgerät raus. Sie widersteht dem Drängen des Onkels, die Baustelle zu verkaufen. Im Schneesturm sitzt sie auf dem Arm einer halb im Boden versunkenen Lenin-Statue. Ihre Nase blutet. Ein Telefon klingelt. Nächstes Kapitel.
Marat träumt lange von der Vergangenheit. Ein promovierter Kulturwissenschaftler führt Touristen durch eine Ausstellung. Er braucht Geld für ein neues 3D-Notebook. Ein Mann mit Feuermal im Gesicht trifft Rollenspieler. Mit einer Elfe fährt er durch die Nacht. Er kümmert sich um ein Kind, dessen Vater von schwerem Baustellengerät überrollt wird. Eine Geschichte über den Zerfall löst sich immer mehr in sich selbst auf. Unter der Last von zu viel Metaphorik und Bedeutungsschwere versinkt sie in Eis, Sand und Schnee wie die unvollendete Baustelle. Die Frau von der Baustelle zieht ein Pferdedenkmal durch den Sand. Ein Kind begleitet sie.
Zieht euch warm an! Der Winter kommt. Und er ist lang, finster und sehr sehr kalt!
Ein Kind stirbt
Wim Wenders erhält den Ehrenbären der 65. Internationalen Filmfestspiele Berlin und zeigt seinen neuen 3D-Film „Every Thing Will Be Fine“ mit Charlotte Gainsbourg und James Franco außer Konkurrenz im Wettbewerb.
Schriftsteller Tomas (James Franco) befindet sich in einer kleinen Schreib- und Beziehungskrise, als ein tragischer Unfall, bei dem ein Kind stirbt, nicht nur sein Leben für immer verändert. Kate (Charlotte Gainsbourg) und ihr älterer Sohn, der auf seinen Bruder aufpassen sollte, und Tomas werden in tiefe Lebenskrisen gestürzt. Wie kann Tomas nach diesem Unglück weiterleben? Kann die Mutter ihm verzeihen?
Tomas kämpft mit Alkohol und Drogen gegen die Schuldgefühle an. Kate findet Trost im Glauben. Nach einem missglückten Selbstmordversuch beginnt der Schriftsteller die Tragödie künstlerisch zu verarbeiten. Nie war er besser als nach dem Unfall. Kate und Tomas begegnen sich wieder. Kurz können sie sich gegenseitig ein wenig Trost spenden. Beide kämpfen darum, das Leben wieder zu ergreifen. Einen neuen Sinn zu finden. Tomas scheint das leichter zu gelingen, auch wenn er im Privatleben für die Frauen nicht wirklich greifbar ist.
Wenders begleitet beide Handlungsstränge mit leisem, liebevollem Blick. Der Kampf zurück ins Leben, das Straucheln. Biografien, die nur durch ein schreckliches Unglück verbunden bleiben. Ein Jahrzehnt dauert die Trauer und hört doch nie ganz auf. Aber es gibt Hoffnung auf eine erfüllte Zukunft – trotz der Schwere der Ereignisse. Der 3D-Effekt verleiht dem Film leider eine comichafte Anmutung, die die Geschichte nicht nötig hat. Das Seelenleben der Protagonisten wäre ohne diese technische Spielerei wahrscheinlich greifbarer gewesen.
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