Berlinale 2012 – Kann denn Liebe Sünde sein?

Moabit am frühen Sonntagmorgen und völlig unerwartet geht die Sonne wieder auf. Der Wettbewerb der 62. Internationalen Filmfestspiele Berlin wird religiös: Verbotene Liebe in den Klöstern von Meteora, Dschungelcamp im Namen des einen Gottes mit Isabelle Huppert und die blutigen Folgen des Nordirlandkonfliktes mit Clive Owen – der Berlinale vierter Tag.

Größte Freude empfindet der Mensch, wenn er sich und anderen in paranoiden Systemen das Leben schwer machen kann. Das war so, das wird so sein. Hin und wieder zerfällt eine hermetische Organisation, ein Staat, eine Familie, ein religiöses System. Kaum ist es verschwunden, sind zwei neue nachgewachsen. Noch verrückter, noch besser organisiert, noch subtiler, noch gewalttätiger. Und wenn das alles nicht mehr hilft, werden kleine Bambusstäbe unter die Fingernägel getrieben. Sage keiner, der Mensch sei nicht lernfähig. „Julius Caesar“, „Barbara“ und „Dictado“ waren am Samstag, der Freitag bescherte uns „Aujourd’hui“, „Elles“ und „A moi seule“ und am Donnerstag haben wir ein bisschen Revolution gespielt. Same same but different – große und kleine Schrecken. Die Dimension spielt letztlich keine Rolle, wenn es uns erwischt, zählt der individuelle Schmerz und nicht der Rest der Welt.

Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb

Theodorus liebt Urania und Urania liebt Theodorus – beide leben nur einen Steinwurf von einander entfernt. Aber der Graben zwischen ihnen ist noch tiefer als bei den beiden Königskindern. Theodorus ist Mönch, Urania Nonne, beide leben irgendwo zwischen Himmel und Erde in einem der Klöster von Meteora, die auf hohen Sandsteinfelsen thronen. Der Weg ins Tal ist beschwerlich. Eine Geschichte voller Lokalkolorit, Flötenmusik und verwaschener Handkamera. Wen das religiöse Motiv schreckt, der interessiert sich vielleicht für Hausschlachtungen und das Häuten mit Gas aufgepumpter Tiere. Und wer sich bei „Das Schweigen der Lämmer“ schon immer gefragt hat, was es mit den Tierschreien auf sich haben könnte, dem sei ebenfalls ein Besuch von Spiros Stathoulopoulos Wettbewerbsbeitrag „Metéora“ dringend ans Herz gelegt.

Animationssequenzen im Stile orthodoxer Ikonen spinnen die Geschichte dieser schmerzvollen, quälenden und immer drängenderen Liebe mystisch fort. Da wird der Gottessohn noch einmal ans Kreuz geschlagen, und das Erlöserblut spitzt und schwemmt allen Unrat weg. Rapunzel lässt ihr Haar nicht herunter, schlägt damit aber eine Brücke zur Klause des Geliebten, und der schöne Jüngling schwingt sich hinaus in schwindelnde Höhen und steigt hinüber zu seiner schwarz verschleierten Prinzessin.

Gemeinsam steigt man hinab in die Höhle, und es kommt zum Äußersten – Theodorus und Urania haben die verbotene Frucht gekostet und schauen den Baum der Erkenntnis. Beide steigen gemeinsam hinab ins Tal und werden zu gewöhnlichen Sterblichen. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt – sehenswert.

Anschließend werden wir mit Isabelle Huppert in Brillante Mendozas „Captive“ in den Dschungel verschleppt. Im Namen des einen Gottes werden im Mai 2001 zwölf Gäste aus einer Ferienanlage von muslimischen Abu-Sayyaf-Kämpfern entführt und zu einem monatelangen Marsch durch den philippinischen Dschungel gezwungen. Ziel ist die Erpressung von Lösegeld. Wer zahlt, kann gehen.

In nahezu dokumentarischen Bildern ziehen wir mit Gotteskriegern und Geiseln immer tiefer hinein in die undurchdringlichen Wälder. Das Leben aller wird durch wiederholte Kampfhandlungen mit der Armee gefährdet. Dreck, Gewalt, Schmerz sind zum Greifen nah. Mendozas Film beruht auf wahren Ereignissen. Die Wenigsten werden mit dem Leben davon kommen.

Und bist du nicht willig …

Tod und Verderben bestimmen das Leben vieler Familien im Nordirlandkonflikt. Im Wettbewerb außer Konkurrenz zeigt die Berlinale James Marshs „Shadow Dancer“ mit Clive Owen, Andrea Riseborough und Gillian Anderson. Kinder werden erschossen, Männer und Frauen wollen Rache. Wer ist Freund, wer ist Feind, die Linien verschwimmen. Keiner kann mehr sicher sein, jeder beobachtet jeden und alle kämpfen mit schmutzigen Tricks. Die kleinen Momente des privaten Glücks sind nichts.

Gewalt, die Gewalt erzeugt. Schmerz folgt auf Schmerz. Dreck, Elend, Blut und Tod. Das muss so, haben wir schon immer so gemacht. Gewinner gibt’s keine. Könnte alles so einfach sein, wir wissen nur nicht wie einfach geht.

 

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