Neulich irgendwo

Der Mensch ist, mit einer Ausnahme, nicht nur vollkommen wahnsinnig sondern auch nicht gemeinschaftsfähig, auch wenn Kuschelpädagogen, Familienaufsteller, Philanthropen, Sonstige gerne etwas anderes behaupten. Unwürdige Sozialexperimente wie: Wir gehen an einem beliebigen Wochentag in einen Supermarkt und pöbeln weder andere „friedliche“ Kunden (die unkoordiniert vor dem Kühlregal herumlungern) an, noch rammen wir einfach so, weil es Spaß macht, den Wagen in die Fersen eines Konsumenten, müssen als gescheitert betrachtet werden. Der Beitrag von Online-Supermärkten zum sozialen Frieden kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Treffen Humanoide in Rufweite aufeinander, sind Hass, Ärger und Körperflüssigkeiten vorprogrammiert. Immer.

Neulich im Fahrstuhl
Schallisolierter Wohnraum ist ein Menschenrecht, und das Zusammenleben in Mehrfamilienhäusern ist eine Form fortgesetzter Affektkontrolle mit allen bekannten degenerativen Begleiterscheinungen. Schon die gemeinschaftliche Nutzung eines Fahrstuhls mit einem vollkommen wahnsinnigen, der Körperhygiene wenig zugewandten Mitbewohner mit Magenproblemen kann über den weiteren Verlauf eines Tages entscheiden. Aber auch die Nutzung des Treppenhauses schützt nicht davor auf Menschen zu treffen, die körperlich unpässlich in den Tag gestartet sind. Jeder hat mal einen schlechten Tag, und das Erbrechen im öffentlichen Raum ist für wenige ein angenehmes Erlebnis. Der Anblick von Kotze am Morgen hat aber auch sein Gutes: Auf nüchternen Magen hat man selbst nur wenig dazu beizutragen.

Neulich im Großraumwagen
Großraumwägen in Zügen sind regelmäßig Schauplätze grausamer menschlicher Dramen.
An einem Sonntag im März in einem ICE-Großraumwagen von Berlin nach Leipzig. Besetzte Plätze ca. fünf bis sieben, frei: sehr viele. Die Reservierungsanzeige ist, wie üblich, ausgefallen. Der Zug wird in Leipzig enden. Einziger noch zu erwartender Zwischenhalt: Lutherstadt Wittenberg. Größere Menschenhorden sind auch hier nicht mehr zu erwarten (aber man weiß ja nie). Auftritt zweier älterer Damen in Kunstpelzjäckchen mit Raubtierprint. Es folgt ein minutenlanger Streit um den einen reservierten Gangplatz ohne Tisch, der nur aufgrund der körperlichen Gebrechlichkeit der Delinquentinnen nicht in körperliche Gewalt  ausartet und vom Zugchef höchstselbst befriedet werden muss. Mütter mit kleinen Kindern haben zu diesem Zeitpunkt aus Sicherheitsgründen den Großraumwagen bereits verlassen. Noch beim Aussteigen in Leipzig zischt die eine der anderen zu: „Sie haben kein Recht hier zu sein.“

Neulich im öffentlichen Personennahverkehr
Öffentliche Verkehrmittel sind nicht nur ein Schlachtfeld Fahrgast gegen Fahrgast, sondern insbesondere auch Fahrer gegen den Rest der Welt. Gelegenheitspassagiere sind häufig mit der Tatsache, dass sich Fahrzeugtüren nur schließen, solange Menschen nicht zu dicht im Türbereich stehen, gar nicht vertraut. Alte Hasen im Fahrgeschäft schalten dann einfach mal sich und den Motor des Transportmittels ab und warten. Nach einer angemessenen Bedenkzeit, in der jeder Reisende die Gelegenheit zur eingehenden Selbstprüfung oder für ein kurzes Gebet nutzen kann, folgt freundliches aber bestimmtes Rufen durch das Fahrermikrofon. Bei der Ansage achtet das geschulte Fachpersonal auf eine ebenso kurze wie unspezifische Ansprache aller („Heute noch?“, „Wird’s?“, „Freimachen!“). Der harmoniebedürftige Fahrgast hat zu diesem Zeitpunkt schon mehrfach versucht, den Delinquenten aus der Gefahrenzone zu lotsen, was wiederum gerne als feindliche Einmischung verstanden wird und zu lautstarken Auseinandersetzungen führen kann. Wer schlechte Laune hat, darf sich spätestens jetzt aufgefordert fühlen munter mitzumischen. Eine koordinierte Lautbildung ist nicht erforderlich. Brüllen sie einfach.
Irgendwann wird die Fahrt fortgesetzt.

Neulich am Geldautomaten
Auch hier sollte man immer auf den Anblick von halbverdautem Speisebrei gefasst sein.

Neulich irgendwo
Die Temperaturen werden milder. Die Fenster in Hausfluren können wieder geöffnet werden. Das sieht nicht jeder so.