DOK Leipzig 2017: Von Menschen, Göttern und Kamelen

Man kann nicht nicht kommunizieren, aber wie können wir Watzlawicks Axiom verstehen, wenn der menschliche Körper die gelernten Formen des Austausches verweigert? Kurz nach ihrer Frühgeburt offenbaren die behandelnden Ärzte Veronika Railas Eltern, dass ihre kleine Tochter “null Gehirn” habe. Das Mädchen lebt, ist nach dieser vernichtenden Diagnose aber Luft für die Welt. Ihre Eltern und die Großmutter nehmen das vernichtende Urteil nicht hin und nehmen Kontakt auf. Entwickeln eine ganz eigene Form der Kommunikation – und Veronika lernt schnell.

Sie entdeckt die Buchstaben für sich, die ihr Sicherheit geben. Beginnt mit Worten zu verzaubern, ohne dass sie selbst sprechen kann. Der Leipziger Regisseur Mark Michel ermöglicht es uns, in “Sandmädchen” die innere Welt Veronikas kennenzulernen. Geduldig vermittelt er zwischen Innen und Außen, wohl wissend, dass Veronika für uns förmlich ausgegraben werden muss. Michel hat Geduld mit den Barrieren in unseren Köpfen. Veronikas überragende intellektuelle und rhetorische Fähigkeiten und der schwer gezeichnete Körper wollen sich nicht in unsere gängigen Denk– und Lernmuster fügen.

Veronika schreibt Essays über Kafka, verfasst Gedichte und studiert neue deutsche Literatur und katholische Theologie an der Universität Augsburg.  Mark Michel gelingt es, innere Seelenbilder von Veronika für uns sichtbar zu machen. Sandcollagen von Anne Löper unterstützen anschaulich das Selbstbild Veronikas. Die flüchtigen Werke visualisieren für Veronika das Bröseln ihres Inneren. Ein Film, der unsere eingeschränkten Kommunikations– und Wahrnehmungsräume herausfordert.

Sandmädchen von Mark Michel, Deutscher Wettbewerb, Deutschland, 2017, 85 Minuten.

Und was kommt jetzt?

Polizisten bei einer Observation – Schauspieler am Set – Einvernehmlicher Beischlaf – Männer trinken – Ein Verhör nach häuslicher Gewalt – Eucharistiefeier – Sodaten exerzieren bei Sonnenschein – Die Notrufzentrale der Polizei – Singende Fans des FC Porto – Ballettschüler beim Training an der Stange – Drogenabhängige mit schweren Abszessen setzen den nächsten Schuss – Besuch beim Schularzt – Tiere hinter Gittern – Einer Made misslingt die Flucht – Schlange verspeist fiependes Lebendfutter – Eine Greisin stirbt. 150 Minuten Leben in „Raw“ von Carlos Ruiz Carmona.

Cru (Raw) von Carlos Ruiz Carmona,Internationaler Wettbewerb, Portugal, 2017, 150 Minuten.

Wie eine Fata Morgana

Es ist früh am Morgen, alles schläft. Die Stadt am Ufer des Flusses gehört den Affen und Fröschen. Doch einmal im Jahr, im Monat Kartik, erwacht Pushkar im Bundesstaat Rajasthan aus dem Dornröschenschlaf. Tausende und abertausende Kamele, Pferde und Rinder nähern sich der Kleinstadt. Die Luft ist erfüllt von ihrem Trampeln und Schreien. Händler, Gaukler, Schausteller, Gurus und Touristen bevölkern wenige Tage im November einen der heiligsten Orte des Hinduismus. Es ist Zeit für “Pushkar ka Mela”, einen der größten Kamelmärkte der Welt.

Riesenräder, Buden, Fahrgeschäfte, Tanzplätze, Bühnen – Kamal Swaroop entführt uns in “Pushkar Myths” (Pushkar Puran) auf einen riesigen lärmenden und pulsierenden Jahrmarkt. Wir studieren das Muskelspiel der Pferde, vertiefen uns in das Fell der Kamele, folgen religiösen Ritualen auf Straßen, Plätzen und am Fluss. Eine Bilderflut, eingebettet in endlose religiöse Litaneien und Schöpfungsmythen. Alle Sinne sind gespannt und gereizt. Jede Geschichte muss erzählt werden, jede Legende braucht ihre Zeit. Nach 100 Minuten dann die Erleichterung, dass Pushkar jetzt für ein weiteres Jahr am frühen Morgen den Affen und Fröschen gehört.

Pushkar Myths von Kamal Swaroop, Internationaler Wettbewerb, Indien / USA, 2017, 100 Minuten.

Seltsam bleiern, mit Fontane zu wandern

Nach “Oderland. Fontane” zeigt das DOK Leipzig Teil zwei des Fontane Zyklus von Bernhard Sallmann im Internationalen Programm. Entstanden ist ein filmisches Stillleben, das die Faszination an der Landschaft und den Texten Fontanes bemüht transportiert. Zu statischen Bildern wird schulmeisterlich Fontane rezitiert. Visualisierung und gesprochener Text gehen in “Rhinland. Fontane” keine Verbindung ein. Ein Film, der an trüben Herbsttagen in den dritten Programmen sein Publikum finden wird.

Rhinland. Fontane von Bernhard Sallmann, Internationales Programm, Deutschland, 2017, 67 Minuten.

Auch noch sehenswert:

Wie prägend sind die ersten Augenblicke mit der eigenen Mutter? Kann die Wunde, die eigenen Wurzeln nicht zu kennen, je heilen? In “Die fünfte Himmelsrichtung” macht sich Filmemacher Martin Prinoth gemeinsam mit seinem Cousin Markus in Brasilien auf die Suche nach dessen leiblicher Mutter.

Die fünfte Himmelsrichtung von Martin Prinoth, Internationales Programm, Deutschland / Italien, 2017, 78 Minuten.