DOK Leipzig 2016: Neo Rauch, Liebe, Gott und ein Waffensystem mit 42 Zähnen

Neo Rauch auf der Suche nach heilsamen Kunstwelten, Bruder Jakob auf der Suche nach Gott, Dieter sucht die Liebe und Hunde in der Grundausbildung – das DOK Leipzig 2016 taucht ein in das Leben. Vier weitere Filme aus dem offiziellen Programm, die ihr nicht verpassen solltet.

Anmalen gegen den Wiederholungsekel

Neo Rauch, internationaler Malerstar und Mythos der Leipziger Kunstszene, müht sich alleine in seinem Atelier mit einer großformatigen Leinwand. Kein Glamour, keine Schar von Assistenten, die dem Meister sein Schaffen erleichtern. Ganz fern ist die Kamera zu Beginn von Nicola Graefs “Neo Rauch – Gefährten und Begleiter” dieser Lichtgestalt der Neuen Leipziger Schule. Dürfen wir dem öffentlichkeitsscheuen Künstler, geprägt vom frühen Tod der Eltern, näher kommen?

Filmstill: Neo Rauch - Gefährten und Begleiter von Nicola Graef

Filmstill: Neo Rauch – Gefährten und Begleiter von Nicola Graef

Was inspiriert und fordert Rauch nach so vielen Jahren des künstlerischen Schaffens noch? Neue Urwälder wollen von ihm entdeckt und bearbeitet werden. Es ist der „Wiederholungsekel“, der ihn immer wieder wachrüttelt. Im Tun dürfen Bewegungen nicht öde und banal werden, das Sprechen über ein Werk nicht schal im Mund. Bildwelten und Sprache Rauchs scheinen aus der Zeit gefallen. Im Trubel internationaler Ausstellungen wirkt der Künstler zwischen Bewunderern und Werken fast verloren. Im heimischen Atelier kehren Freude und Sicherheit zurück, auch wenn das Einlassen auf den Film ein stetes ernstes Ringen für Rauch zu sein scheint. Hier spricht kein selbstgefälliger Plauderer. Geschwätzigkeit über sich und sein Werk sind ihm fremd. Wie ein Pinselstrich wird jedes Wort mit Bedacht gesetzt. Fast kindlich die Grenzen auslotend, tastet er sich in den Interviews mit der Filmemacherin immer weiter voran.

“Ich möchte nie der Fremde sein”

Rauch ist umgeben von seinen Figuren, die ihn ständig begleiten, nachts an seinem Bett rütteln, ihren Schöpfer verspotten, wenn er sie noch nicht greifen kann. Ein kurzer Moment der Leichtigkeit herrscht im Atelier, wenn der hervorragend erzogene Mops Smylla sein Fressen erhält. Wie ein leichter Nebel kehrt eine sanfte Schwermut unmittelbar danach zurück. Die Auseinandersetzung mit den Eltern, die kurz nach seiner Geburt beim Eisenbahnunfall von Leipzig am 15. Mai 1960 tödlich verunglückten, ist für ihn kaum in Worte zu fassen. Über das Malen stellt er für sich eine Verbindung her. Wie Ikonen hütet er die wenigen Skizzen des Vaters, dessen künstlerisches Schaffen noch ganz am Anfang war. Über das Tun definiert sich das Sein – ein Leben ohne die Malerei wäre für Rauch sinnlos.

Graef begleitet Rauch auf Reisen, besucht immer wieder das Atelier auf dem Spinnerei–Gelände, trifft und befragt weltweit Sammler, Galleristen, Weggefährten und seine Frau, die Malerin Rosa Loy. Rauch bietet dem aufmerksamen Betrachter ein heilsames Eintauchen in die Kunstwelten an. Als Vertrauter im Vertrauten möchte Rauch wahrnehmbar sein. So zieht es ihn aus der Fremde immer wieder zurück in die Heimat. Ein Film, der geduldiges Schauen und Hören belohnt.

Neo Rauch – Gefährten und Begleiter von Nicola Graef, Deutscher Wettbewerb, Deutschland 2016, 100 Minuten

Unter Brüdern

Im September 2009 entdeckt Jakob auf einem Hippietreffen in den Bergen von Marokko den Koran für sich. Über das Buch spricht Gott direkt zu ihm. Jakob begreift, dass er Muslim ist. Es gibt kein Zurück mehr. Sein Leben ändert sich von diesem Moment an fundamental. WG, Musik, Party, alte Freunde, die Großmutter im Pflegeheim – alles ist auf dem Prüfstand. Vieles zerbricht. Der Bruder bleibt.

Filmemacher Elí Roland Sachs begleitet in “Bruder Jakob” mehr als sechs Jahre mit großer Liebe und Tiefe seinen kleinen Bruder auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Allah hat die Liebe zur Musik aus Jakobs Herz genommen – er vermisst sie nicht. Freunde und Familie berichten aus dieser Zeit der dramatischen Veränderung, der fanatischen Hinwendung zum Glauben, dem Wunsch, die Ungläubigen zu bekehren, um sie vor der Hölle zu bewahren. Ohne den Glauben an Gott hat für den mit sich und der Welt ringenden Jakob das Leben keinen Sinn. Durchdrungen von großer Ernsthaftigkeit und dabei körperlich fast durchscheinend sucht er nach seinem Platz in der Welt. Für ihn gibt es keinen Grund an der Allmacht Gottes zu zweifeln. Jakob will die einfachen Regeln befolgen und sich der höheren Macht ganz anvertrauen. Elí lässt ihn immer wieder gehen ohne ihn zu verlassen.

Es folgen Jahre der Suche und der Veränderung. Ein neuer Prophet wird wichtig in Jakobs Leben. Sein Weg führt weg von der Gemeinde. Der Zweifel zieht ein in Jakobs Herz. Die Suche geht weiter, immer in der Hoffnung, das Richtige zu tun.


Bruder Jakob von Elí Roland Sachs, Internationales Programm, Deutschland, 2016, 92 Minuten

Die Tochter des Bräutigams

In “Die mit dem Bauch tanzen” hat Mutter Birgit nach der Scheidung Lebensfreude in ihren Alltag gebracht. In „Happy“ sucht Vater Dieter sein spätes Liebesglück mit einer jungen Thailänderin. Carolin Genreith richtet erneut den Fokus und die Kamera auf ihre eigene Familie und schont sich dabei nicht. Es ist ihr peinlich, dass der Vater auf Freiersfüßen mehrmals im Jahr nach Thailand reist. Im Kampf gegen die Einsamkeit hat er im “Sex-Tourismus” sein Heil gesucht und ist fündig geworden. Der 60-jährige Hobby–Bauer aus der Eifel will nach fast 3,5 Jahren Fernbeziehung die fast 30 Jahre jüngere Tukta heiraten – Großfamilie inklusive.

Carolin Genreith sucht mutig die öffentliche Auseinandersetzung mit dem gewitzten Vater. Gemeinsam reist sie mit Dieter zur Braut, die ihre jüngere Schwester sein könnte. Welche Antworten haben wir auf Isolation und fehlende Nähe und Zärtlichkeit im Alter? Sind wir bereit, uns den Wünschen und Sehnsüchten unserer Eltern zu stellen? Mutig und humorvoll suchen Dieter und Carolin Genreith in “Happy” den offenen Vater–Tochter–Schlagabtausch.

Happy von Carolin Genreith, Deutscher Wettbewerb, Deutschland, 2016, 90 Minuten

Sitz ist sitz – Platz ist platz

Dort, wo der Wald am tiefsten ist, da ist ein Zaun. Hunde bellen, Schüsse fallen. Hierher schickt die Bundeswehr Rekruten, die in knapp 12 Monaten zum Diensthundeführer ausgebildet werden. Ein Programm, das nicht jedem geheuer ist. Diensthundeführer sind irgendwie anders, irgendwie seltsam. Bald verstehen wir, was Lena Leonhardt meint, wenn sie zu Beginn ihres Films „Hundesoldaten“ aus dem Off zu uns spricht. Der Soldat wählt seinen Hund aus. Herr und Hund gehen eine Ehe ein – eine Ehe, in der nur ein Partner das Sagen hat.

Durch permanente Wiederholung und knallharten Drill werden Mensch und Tier im Laufe der Ausbildung eine symbiotische Beziehung eingehen. Über Jahre werden sie, wenn die Ehe funktioniert, verbunden sein. Der Hund wird seinem Herrn rund um die Uhr folgen. Der Hund ist sein Dienstgerät, kein Kuscheltier für die Familie. Und doch ist er mehr, als nur eine scharfe Dienstwaffe. Er wird zum Partner, an dem man hängt. Eine geliebte aggressive Waffe, die man ein- aber nicht immer leicht ausschalten kann. Der Grat ist schmal. Im Ernstfall müssen Mensch und Dienstwaffe perfekt miteinander funktionieren.

Im gleichen Trainingscamp ist ein Modellprojekt der Bundeswehr beheimatet. Hier soll ein schwer traumatisierter Kosovo-Veteran über ein Therapiehundeprogramm zurück ins Leben finden. Der Hund wird zum Mittler in die Welt. Über das Tier wird das Zulassen von Nähe wieder möglich. Die Unmittelbarkeit der Arbeit mit dem Tier lässt die Schwermut für den Moment verschwinden.

Eigen ist diese Welt im Wald. Viele bewerben sich, nur wenige werden ausgewählt. Wir wissen, woran das liegt: Diensthundeführer sind irgendwie anders, irgendwie seltsam …


Hundesoldaten von Lena Leonhardt, Deutscher Wettbewerb, Deutschland, 2016, 69 Minuten