Berlinale 2020 – Die bitteren Tränen des Kunsttischlers Luc
Eine Kuh und ziemlich beste Freunde, drei Versuche über die Liebe und eine wahre Geschichte über die Kraft der Sprache – der Wettbewerbs-Samstag der Internationalen Filmfestspiele in Berlin.
Steht eine Kuh im Wald und frisst
Ein Containerschiff befährt einen breiten Strom. Zwei Skelette liegen Hand in Hand an den Ufern des breiten Flusses und führen uns zurück in die Zeit der ersten Siedler, Goldsucher und Pelzhändler, irgendwo im wilden Oregon. Der schüchterne Koch Cookie trifft tief im Wald den nackten Chinesen King-Lu. Der King hat sich auf der Flucht vor Russen im Unterholz versteckt. Cookie versorgt den weit gereisten und redseligen Asiaten mit Kleidung und Nahrungsmitteln – der Beginn einer unzertrennlichen Männerfreundschaft.
In einer kleinen verkommenen Siedlung, die nie bessere Tage gesehen hat, lassen sich die beiden in einem zugigen Verschlag nieder. Cookie – der Name ist Programm – erweist sich als begnadeter Zuckerbäcker. Allein es fehlt unseren beiden Freunden in Kelly Reichardts Wettbewerbsbeitrag „First Cow“ an Zutaten. Just in diesem Moment trifft die titelgebende erste Kuh in unserer vor Dreck starrenden Dorfgemeinschaft ein und Koch und Chinese ziehen eine kleine florierende Straßenbäckerei mit Ölgebäck auf. Problem: Die dafür notwendige Milch muss Nacht für Nacht illegal gemolken werden. Kann das gut gehen?
So träge wie der Fluss zieht dieses Loblied auf ziemlich beste Freunde und fette Teilchen 122 Minuten über die Kinoleinwand.
Der sanfte Luc und die Frauen
Auf Gebäck am Fluss folgt das Tal der Tränen in Philippe Garrels „Le sel des larmes“ (The Salt of Tears). Luc ist Tischler wie sein Vater und möchte dessen Lebenstraum erfüllen und eine Ausbildung als Kunsttischler an der berühmten École Boulle in Paris beginnen. Auf dem Weg zur Aufnahmeprüfung läuft ihm die liebreizende, aber unerfahrene Djemila in die Arme. Eine kurze Liebelei keimt auf, scheitert aber, bevor es zum Äußersten kommen kann, an der Unschuld der kindlichen Schönen. Djemila weint, Luc reist ab.
Zurück im Heimatdorf begegnet Luc seiner Jugendliebe Geneviève. Die beiden haben keine Scheu voreinander und knüpfen da an, wo sie vor sechs Jahren aufgehört haben. Da erhält Luc die Zusage für die Möbeltischlerschule in der Hauptstadt. Geneviève weint, hat noch ein Ass im Ärmel, das aber nicht zieht, und bleibt beim greisen Vater unseres promiskuitiven Handwerkers zurück.
Der Erzähler nimmt uns in dieser, in anspruchsvollem schwarz-weiß gehaltenen Männerphantasie, erneut mit nach Paris. Hier wird Luc in Betsy seine Meisterin und erstmals die Liebe finden. Eine Ménage à trois auf engstem Raum bringt Luc an seine Grenzen. Wer 100 Minuten durchhält, wird mit einer letzten starken philosophischen Ansage des Erzählers belohnt. Die bitteren Tränen Lucs würdigt das Publikum mit herzlichem Gelächter.
… und was läuft noch?
Es ist erneut die Nebenreihe „Berlinale Special Gala“, die mit einem herausragenden Film glänzen kann. Der ukrainisch-amerikanische Filmemacher Vadim Perelman hat die Novelle „Erfindung einer Sprache“ von Wolfgang Kohlhaase verfilmt. In „Persian Lesson“ brilliert der argentinische Schauspieler Nahuel Pérez Biscayart – der bereits in der Erotik-Mystery-Schmonzette „El Prófugo“ (The Intruder) als fragiler Orgelstimmer eine der schönsten Werbungstänze der letzten Kinojahre auf’s Parkett gelegt hat – an der Seite von Lars Eidinger.
Der junge Belgier Gilles (Biscayart) behauptet im Angesicht des sicheren Todes durch ein NS-Erschießungskommando kein Jude sondern Perser zu sein. Wie der Zufall es will, sucht just zu diesem Zeitpunkt SS-Offizier Koch (Eidinger) einen Perser, der ihm Farsi beibringen kann. Nach dem Krieg will der Deutsche zu seinem Bruder nach Teheran und dort ein Restaurant eröffnen. Gilles wird zu Reza und zum Erfinder einer eigenen Sprache. In der Stunde größter Not wird ihm sein Wortschatz, der ihm in Fleisch und Blut übergeht, das Leben retten.
Die Brutalität der Wachsoldaten, das peinigende Lagerleben und die ständige Angst aufzufliegen, zehren Gilles aus. Und doch entsteht zwischen den beiden ungleichen Männern eine fragile Verbindung, der sich auch der Nazi nicht entziehen kann. Das eindringliche Spiel Nahuel Pérez Biscayarts hätte einen Platz im Wettbewerb und einen Darsteller-Bären verdient. „Persian Lesson“ läuft voraussichtlich am 7. Mail 2020 in den deutschen Kinos an.
- Berlinale 2020 – Wir sind alle Tiere
- Berlinale 2020 – Halb zog sie ihn, halb sank er hin und ward nicht mehr gesehn