Berlinale 2019 – Schrei, wenn du kannst!
Benni macht kaputt, was sie kaputt macht. Zwei liegen im mongolischen Steppengras, sprechen über Dinosaurier und töten ein Schaf. Gelobt sei der Herr für die Taten seiner Vertreter auf Erden. Tag zwei im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele Berlin.
Benni schreit, Benni klaut, Benni ist brutal, einsam, schwerst traumatisiert und wahnsinnig gestört. Benni ist ein “Systemsprenger” im Wettbewerb der 69. Internationalen Filmfestspiele Berlin. Benni ist erst neun Jahre alt. Grün und blau ist ihr kleiner geschundener Körper von ihren unkontrollierten Ausbrüchen. Wenn der Zorn von ihr Besitz ergreift, helfen nur noch bruchsicheres Glas und harte Psychopharmaka. Benni hat viele Fotoalben, immer wenn sie aus einer Wohngruppe fliegt, bekommt sie ein neues. Erzieher, Psychologen, Mediziner, Anti-Gewalttrainer, Lehrer und Schulbegleiter haben in Benni ihre Meisterin gefunden. Namen gibt sie ihren hilflosen Helfern schon lange nicht mehr. Ihre Mama, nach der sie verzweifelt ruft, hat Angst vor ihr.
Unbändiger Zorn und totale Verlorenheit, die 11-jährige Helena Zengel spielt Benni in Nora Fingscheidts Debütfilm “Systemsprenger” mit zerstörerischer Naturgewalt und feinnerviger Verletzlichkeit. Mit dem ganzen Körper werden ihre Wut und der Schmerz spürbar. Alles an diesem Kind steht unter Strom. Fingscheidt inszeniert und begleitet diese verlorene Seele mit einprägsamen Bildern und aufwühlendem Sound.
Dinosauriermonologe
Fahren Zwei durch die mongolische Steppe und erzählen sich was. Tierherden kreuzen ihren Weg und eine nackte Frauenleiche. Kommt die Polizei und schaut. Eine bewaffnete Frau auf einem Trampeltier vertreibt einen Wolf. Im mongolischen Wettbewerbsbeitrag „Öndög“ von Wang Quan’an ist die Kamera in weite Landschaften verliebt – warum auch nicht, wenn es nichts zu erzählen gibt.
Ein junger Polizist hockt im Steppengras und wartet auf Verstärkung. Güldene Grashalme wiegen sich im Wind. Der Polizist und die bewaffnete Frau sprechen in ihre Schals. Kein Problem – gibt ja Untertitel. Die Frau setzt dem Polizisten die Mütze richtig auf. Ein betrunkener Mann fährt Motorrad und tötet ein Schaf durch Bauchschnitt und sofortige Darmentnahme. Der junge Polizist wartet und tanzt im Sonnenuntergang. Die Frau reitet auf ihrem Trampeltier in den Sonnenuntergang. Elvis sing “Love Me Tender”. Am Lagerfeuer gibt es Schnaps und Zigaretten. Unterm Schaffell rückt man eng zusammen. Ein Kalb wird geboren. Der Motorradfahrer und die Frauen essen Äpfel. Beim Sex muss man Stirnlampen nicht ablegen.
Und jetzt: Musik!
Bitte für uns Sünder
Jahrzehnte nach dem sexuellen Missbrauch durch Pater Bernard Preynat entdeckt Alexandre durch Zufall, dass sein Peiniger noch immer mit Kindern arbeiten darf. Er nimmt Kontakt mit dem zuständigen Kardinal Philippe Barbarin auf – man schreibt sich höfliche Mails und wünscht sich Gottes Segen. Gemeinsam mit weiteren Opfern erstattet Alexandre Anzeige gegen Preynat. Begleitet vom Selbsthilfeverein „La Parole Libérée“ (Das befreite Wort) wagen immer mehr Männer den Schritt in die Öffentlichkeit.
Die Spirale des Schweigens und der Bigotterie inszeniert François Ozon in seinem Wettbewerbsbeitrag „Grâce à Dieu“ (By the Grace of God | Gelobt sei Gott) als gepflegt dialoglastiges träges Kammerspiel. Zivilisiert reicht man sich in dieser Geschichte – nach einer wahren Begebenheit – die Hände zum Gebet. Hier kotzt keiner seinen Weltenekel vor die Tore der Kirche. Geistlich müssen nicht fürchten, an den Haaren vor den Altar gezerrt zu werden. Seit Januar 2019 muss sich Kardinal Philippe Barbarin wegen „Nichtanzeige“ der sexuellen Übergriffe vor Gericht verantworten. Ein Urteil wird im Frühjahr 2019 erwartet.
- Berlinale 2019 – Das Wunder von Manhattan
- Berlinale 2019 – Suff, Sex und Fanta-Korn