Berlinale 2017 – Leg dich nicht mit „Logan“ an
Im Herzen eines jeden Menschen steckt ein wildes Tier, und wenn das Tier erwacht, kennt es keine Gnade. Eine Tasche mit einer Million Yuan wechselt in „Hao ji le“ (Have a Nice Day | Einen schönen Tag noch) von Liu Jian mehrfach den Besitzer – Glück wird sie keinem bringen. In reduzierten Animationen bewegen wir uns durch die grauen Betonruinen einer chinesischen Großstadt. Verfall und Erschöpfung liegen bleiern über Häusern und Menschen. Die Symbole einstiger Blüte verrotten am Straßenrand.
Hoffnung auf Erneuerung besteht nicht, die Verheißungen des Kapitalismus sind dem Verfall preisgegeben. Die Menschen sind verkommen und müde. Ob philosophierender Gangsterboss oder in die Jahre gekommene Besitzerin eines Schnellimbiss – sie alle werden von den bunten Scheinen angezogen, wie die Motten vom Licht. Die Spirale der Gewalt kann nicht mehr aufgehalten werden. Das Geld in der schwarzen Tasche macht die Menschen maßlos in der Wahl der Waffen. Aus Freunden werden Feinde, Gier und Wahnsinn greifen um sich. Eine kurze Lektion über den Zustand des Reichs der Mitte und den Rest der Welt.
Das Ende einer Geschichte
Toma liebt Ana. Ana hat Probleme. Die Literaturstudentin leidet unter Panikattacken. Toma ist fasziniert. Seit ihrem 17. Lebensjahr nimmt Ana Psychopharmaka. Toma und Ana werden ein Paar, gegen den Widerstand der fiesen Eltern. Beide tragen schwer an der Last ihrer Familiengeschichte voller Gewalt, Übergriffe und Bigotterie. Erste Verliebtheit, gesundheitliche Krisen, Gespräche mit dem Psychoanalytiker – wir tauchen zu unterschiedlichen Zeiten in das Beziehungsgeflecht ein. Dann wird Ana schwanger und beginnt eine Psychoanalyse. Sechs Jahre wird sie dauern.
Medikation, Arzttermine, Scheiße abwaschen, wenn Ana sich einkotet – Toma ist Pfleger Nummer eins. Ihr Leben liegt in seinen Händen. Die Dauerbetreuung von Frau und Kind kostet ihn seinen Job. Macht nichts, dafür hatte er sowieso keine Zeit. Ana blüht auf, Toma verliert die Haare.
Als die Genesung beginnt, will Ana allmählich ihr Leben zurück. Toma entgleitet sein Projekt. Eifersüchtig wacht er über jeden ihrer Schritte. Undank ist der Welten Lohn. Zwischentöne sind Calin Peter Netzers (Goldener Bär 2013 für Child’s Pose) Sache nicht. In „Ana, mon amour“, seinem diesjährigen Beitrag für den Internationalen Wettbewerb, hält er voll drauf. Jede Pore, jedes Schamhaar, quälende Gespräche, alles wird auserzählt. Toma und Ana liegen gut zwei Stunden vor uns auf der Couch – ein Film, kalkuliert für den Wettbewerb eines großen Filmfestivals.
Im Tal schweigen jetzt die Waffen
Wie jedes Jahr endet die Reihe der Presseaufführungen im Internationale Wettbewerb der Berlinale mit einem potentiellen Blockbuster der außer Konkurrenz gezeigt wird. Nach Sozialdramen, unsicherer Handkamera und zerquälten Dialogen noch einmal Hochglanz für die ganz große Leinwand. Mit „Logan“ von James Mangold mit Hugh Jackman, Patrick Stewart und der wunderbaren Dafne Keen kehren die Mutanten der X-Men zurück – oder was von ihnen übrig ist.
Wir schreiben das Jahr 2029. Die Mutanten-Population ist nahezu vernichtet, die X-Men gibt es nicht mehr. Logan (Hugh Jackman) schlägt sich, schwer gezeichnet von den vergangenen Schlachten, als Chauffeur durch. Auf einem heruntergekommenen Industriegelände nahe der mexikanischen Grenze versteckt er den greisen Professor X (Patrick Stewart), der unter eine fortschreitenden Erkrankung seines Superhirns leidet. Als das Mutanten-Kind Laura (Dafne Keen) Logans Hilfe benötigt, um in Sicherheit zu gelangen, beginnt ein düsterer Road-Trip mit Gemetzel.
Hugh Jackman fährt in seiner Paraderolle ein letztes Mal die Krallen aus. Die Superhelden sind müde geworden, und die Schurken verfügen über eine neue Superwaffe. Der Mutantennachwuchs geht einer ungewissen Zukunft entgegen.
Der Wettbewerb der 67. Berlinale ist komplett, jetzt hat die Jury das letzte Wort. Die Bären-Favoriten:
Testrol és lélekrol (On Body and Soul) von Ildikó Enyedi
Pokot (Spoor) von Agnieszka Holland
Mr. Long von Sabu
Toivon tuolla puolen (The Other Side of Hope | Die andere Seite der Hoffnung) von Aki Kaurismäki
Hao ji le (Have a Nice Day | Einen schönen Tag noch) von Liu Jian
Beuys von Andres Veiel
Wilde Maus (Wild Mouse) von Josef Hader
Una mujer fantástica (A Fantastic Woman) von Sebastián Lelio
The Party von Sally Potter
Ana, mon amour von Calin Peter Netzer
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