Berlinale 2016 – Das Leben ist eines der Härtesten

Bei der Berlinale, die sich traditionell als politisches Festival versteht, darf das Schicksal der Schutzsuchenden und Flüchtlinge, die versuchen Europa zu erreichen, im Wettbewerb nicht fehlen. In der Dokumentation „Fuocoammare“ (Fire at Sea) richtet der italienische Filmemacher Gianfranco Rosi den Blick nach Lampedusa. Die Insel im Mittelmeer ist Sinnbild der humanitären Katastrophe, die sich vor den Toren des Festlands tagtäglich ereignet.

Wie leben die Bewohner der Insel mit dem permanenten Ausnahmezustand – Tod und Verzweiflung immer vor Augen? Möchte man Rosi anhand seiner Protagonisten glauben, augenscheinlich gar nicht. Er stellt beide Welten nebeneinander, Berührungspunkte gibt es nicht. Küstenwache und Helfer sehen wir im Einsatz. Menschen in weißen Schutzanzügen heben Leichensäcke auf ein Schiff, leisten erste Hilfe, registrieren Überlebende. Rosi beobachtet die Einsätz. Im Hubschrauber kreisen wir über vollkommen überladenen Booten.

Auf der anderen Seite ist da der 12-jährige Samuele, versierter Bastler von Steinschleudern, mit denen er gerne auf kleine Singvögel schießt, weniger passionierter Schulgänger. Wir sehen Samuele seekrank und auf dem Boot des Großvaters, endlos Spaghetti fressend am Mittagstisch und beim Augenarzt. Eine Frau kocht und küsst den Schutzheiligen im Schlafzimmer, zieht die Laken glatt. Ein Mann taucht in der rauen See. Was er da macht – unklar, scheint aber nicht zur Nachahmung empfohlen. Das alles dauert quälend lang und interessiert wenig bis überhaupt nicht.

Der Blick auf die Geretteten und Helfer bleibt flüchtig, die Masse anonym. In wenigen Momenten überwindet Rosi die Distanz, hält aus, was die Kamera und der Ton einfangen, und berührt zutiefst. Zeigt, was möglich und dem Thema angemessener gewesen wäre. Da ist der Arzt, der sich praktisch und theoretisch intensiv mit dem Schicksal der lebend und tot geborgenen Schiffbrüchigen auseinandersetzt und leidet. Nur er darf einmal ganz beiläufig fragen, wie wir dieses Elend zulassen können. Weitere Helfer kommen nicht zu Wort. Ein Funkspruch reißt ab – aus dem Radio erfahren wir, wie viele Menschen tot geborgen wurden. Maria wünscht sich für alle Seeleute den italienischen Schlager „Fuocoammare“. Wir blicken in ein Totenschiff, der Bauch gefüllt mit ineinander verschlungenen Leichen. Kein Wort von denen, die täglich in hohen Gummistiefeln über sie hinweg steigen müssen.

Lampedusa ist Metapher und realer Ort einer der größten Tragödien unserer Zeit. Rosi darf aufgrund der Thematik sicher zum Kreis der Bärenkandidaten gerechnet werden.

And now for something completely different

Der Gatte hat eine Jüngere, die Kinder sind aus dem Haus, die Mutter tot. Was tun mit der grenzenlosen nie gekannten Freiheit, die der intellektuellen Pariserin Nathalie im Wettbewerbsbeitrag „L‘ avenir“ (Things to Come) von Mia Hansen-Løve plötzlich zur Verfügung steht? Ein flüchtiger Kuss von einem Fremden, ein kleiner geistreicher Disput mit dem ehemaligen Schüler Fabian (Roman Kolinka). Nathalie meistert die Brüche des Lebens mit französischer Leichtigkeit. Leben und Tod, Alter und Einsamkeit – alles hat seine Zeit, kommt und geht. Auch wenn das eine oder andere Tränchen bei der wunderbaren Isabelle Huppert („Captive“) fließen muss, ist „L‘ avenir“ ein wunderbar flüchtig belangloser Sommerfilm.

Kein Land für alte Männer

Der Kollege zur Linken schlief bereits seit mehr als 20 Minuten tief (und sollte erst beim finalen Schafscherwettkampf wieder zu sich kommen), als gefühliger Ethnopop uns auf eine Reise ins Neuseeland der 60er des letzten Jahrhunderts schickt.

Tamihana Mahana (Temuera Morrison) ist der stolze Patriarch seiner Familie. Durch harte Arbeit haben er und seine Kinder es zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Das Familienoberhaupt herrscht despotisch über seine Kinder und Kindeskinder. Wer nicht schweigend für ihn ist, hat auf seinem Grund und Boden nichts mehr verloren. Die Feindschaft mit der Sippe der Poatas wird von Generation zu Generation weitergegeben, die Gründe dafür liegen im Dunkeln.

Sein gebildeter und widerspenstiger Enkel Simeon ist nicht bereit, das länger hinzunehmen. Es kommt zum Bruch innerhalb des Clans, der erst in der Stunde des Todes wieder gekittet werden kann. Mit Simeon beginnt der hoffnungsvolle Aufbruch in eine neue Zeit. Überlagert wird das gut gespielte gefühlige Familiendrama immer wieder vom unnötig klebrigen Sound. Solide Unterhaltung für Freunde von „Dornenvögel“.

„Mahana“ (The Patriarch) von Lee Tamahori („Die letzte Kriegerin“) läuft im Wettbewerb der 66. Berlinale außer Konkurrenz.