Berlinale 2014 – Kinder, wie die Zeit vergeht
Wer reitet so früh durch Wüste und Wind? Es ist der Anwalt, und er hat ein Navigationsgerät an der Satteltasche. Außerdem begeistert Filmemacher Richard Linklater mit seinem Langzeitprojekt „Boyhood“. Fast drei Stunden Film, von dem man nicht eine Minute missen möchte. Der Wettbewerb der 64. Berlinale ist fast komplett.
Was bisher geschah: Kartoffeln mit Eso-Quark und: It’s a Man’s Man’s Man’s World.
Zum vorletzten Mal sind wir ohne Wasser und Brot früh am Morgen in den Berlinale-Palast eingefahren, um zwei weitere Filme des internationalen Wettbewerbs der Internationalen Filmfestspiele zu sehen. Mittlerweile hat jeder seinen Stammplatz gefunden, und so sieht man für einen Moment, kurz bevor die Dunkelheit beginnt, vertraute Gesichter. Noch einmal Herren-Tag, noch einmal Männer mit teilweise eingeschränkter sozialer Kompetenz, Mord und Totschlag. Da bleibt kein Auge in der Augenhöhle.
Männer! Wollt ihr ewig sterben?
„Das ist eine Geschichte über Tiere“, beginnt Anwalt Pan Xiao die Erzählung seiner Odyssee durch die Xinjiang-Wüste und hoch über ihm kreisen die Falken. „Wu Ren Qu“ (No Man’s Land) von Ning Hao beginnt im Stile eines klassischen Italo-Western, inklusive Gitarrenklängen, Trompeten und Panflötenmusik. Karg und unwirtlich ist der Ort, in ockerfarbenen Bildern meisterlich von Du Jie eingefangen. Gerade noch hat der smarte Anwalt einen Raubvogelschmuggler aus dem Gefängnis geholt, schon rächt sich seine Habgier. Die Rückfahrt durch die Wüste gerät zum Höllentrip. Gewalttätige verkommene Wüstenbewohner kreuzen seinen Weg. Es wird Tote geben. Im Auto und hoch zu Ross versucht der Jurist auf der einzigen Straße, die aus der Wüste herausführt, seinem Schicksal zu entgehen. Aber da ist immer einer, der bereit ist, noch mehr für ein Menschenleben zu bezahlen.
Visuell meisterlich eingefangen gerät die Geschichte ein ums andere Mal zu absurd und halt sich nicht mit Logik auf.
Es war einmal ein Leben
Richard Linklater, kein Mann für die Kurzstrecke. 17 Jahre nach “Before Sunrise”, für den der Regie-Autodidakt 1995 mit dem silbernen Bären für die beste Regie ausgezeichnet wurde, und neun Jahre nach “Before Sunset” diskutierten Julie Delpy und Ethan Hawke auf der Berlinale 2013 in “Before Midnight” im Wettbewerb außer Konkurrenz über das Leben und die Liebe. 2014 konkurriert der Texaner mit seinem wunderbaren Langzeitprojekt „Boyhood“ um die silbernen und den goldenen Bären im Wettbewerb der Berlinale. Wieder mit dabei: Linklaters Lieblingsschauspieler Ethan Hawke.
Von 2002 bis 2013 realisierte Linklater den Film „Boyhood“, der das Leben von Mason (Ellar Coltrane), dessen Schwester Samantha (Lorelei Linklater) und deren getrennt lebender Eltern Olivia (Patricia Arquette) und Mason sen. (Ethan Hawke) über den Zeitraum von 12 Jahren begleitet.
Patricia Arquette glänzt als Mutter, die zielsicher immer bei den falschen Männern landet, dabei aber nie das Wohl ihrer Kinder aus den Augen verliert und mit beiden Beinen fest im Leben steht. Vater Ethan Hawke wandelt sich über die Jahre vom unsteten aber liebevollen Hallodri zum aufrechten Christenmenschen, verliert seinen jungenhaften Charme aber bis zum Ende nicht. Im Mittelpunkt der Geschichte aber steht Mason (Ellar Coltrane). Er mausert sich vom kleinen niedlichen Schulversager, über den schüchtern unsicheren Teenager, zum ambitionierten Fotografen. Die Haare wachsen, die Haare fallen. Erste Liebe, Dosenbier, der Bart sprießt.
Liebevoll zeichnet Richard Linklater fast dokumentarisch die Lebenswege seiner Figuren. Kleine Schwächen, große Herzen, mit jedem neuen Jahr wollen wir mehr erfahren, wissen, wie es den Hauptfiguren ergangen ist. Hinfallen, aufstehen, weitermachen – that’s life! Jahr für Jahr hat der Filmemacher seine Protagonisten für einige Drehtage versammelt und ein weiteres Kapitel hinzugefügt. 164 Minuten, die wie im Fluge vergehen. Leben im Zeitraffer. Lasst uns nachsehen, wie es Mason, Samantha, Olivia und Mason sen. geht. Sind alle gesund? Wie bei guten Freunden, denen man nur selten begegnet, setzt uns Linklater ins Bild und hält dabei scheinbar mühelos die Fäden zusammen. Vergangenheit und Gegenwart fügen sich zu einem stimmigen Bild. Ergänzt werden die Sequenzen durch Ereignisse der Zeitgeschichte, wie die Premiere eines neuen Harry-Potter-Bandes oder den erste Wahlkampf von Obama. Jubel und stürmischer Applaus am Ende des Films im Berlinale Palast. Ob die Internationale Jury ebenso begeistert war, erfahren wir am Samstag.
Und was kommt jetzt? Der Schöne ist das Biest.
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