Berlinale 2013 – Macht kaputt, was euch kaputt macht

20 Jahre nach seinem Tod kehrt River Phoenix im Wettbewerb der 63. Internationalen Filmfestspiele in Berlin noch einmal zurück auf die Leinwand. Außerdem verliert eine Kakerlake auf dem elektrischen Stuhl ein Bein, und Ratten brutzeln in einer Pfanne.

Leichen pflastern seinen Weg

Timur Aidarbekov und Mukhtar Andassov in dem kasachsichen Spielfilm „Uroki Garmonii“ (Harmony Lessons) (Foto: dapd)

„Uroki Garmonii“ (Harmony Lessons) von Emir Baigazin ist der erste Film aus Kasachstan im Wettbewerb einer Berlinale. Ein Film, der zunächst nur aus arrangierten Standbildern zu bestehen scheint. Ein Schaf läuft ins Bild und stirbt dann von der Hand eines Jungen. Der Junge nimmt das Schaf aus, stoisch, ohne eine Miene zu verziehen. Diesen Gesichtsausdruck wird der 13-jährige Aslan in den kommenden 110 Minuten nicht wesentlich verändern. Das Schaf wird zerlegt, die Großmutter reinigt den Darm.

Aslan bei einer Schuluntersuchung. Der Sonderling wird von seinen Mitschülern zum Narren gehalten und trinkt verunreinigtes Wasser. Die sterilen und kühl arrangierten Bilder, die die innere Welt des Protagonisten widerspiegeln, stehen im Gegensatz zu all dem physischen und psychischen Dreck der Aslan umgibt. Der möchte vor allem eins: Reinheit erlangen. Durch wiederholte Waschungen, das häufige Wechseln seiner Kleidung und vorsätzlich herbeigeführtes Erbrechen arbeitet er innerlich und äußerlich an sich. Nach dem Töten des Schafes entwickelt er ein wahnhaftes Interesse an Kakerlaken, die er auf alle erdenklichen Arten quält und tötet. Der naturwissenschaftlich begabte Junge baut sogar einen kleinen elektrischen Stuhl für sie.

Auge um Auge

Die Situation in der Schule wird immer unerträglich. Ein kleiner Pate hat eine Gang um sich geschart und lässt alle anderen bluten, finanziell und körperlich. Aslans Mitschülern ist es bei Strafe verboten mit ihm Kontakt aufzunehmen. Mirsain, ein Junge aus der Stadt, bricht dieses Gebot. Diese Regelverletzung wird ihn teuer zu stehen kommen. Aslan hat Probleme und das nicht zu knapp. Mit eingefrorener Miene und zunehmend zwanghaftem Verhalten hält er dagegen.

Als Schutzgelderpresser Bolat in die Klasse von Aslan wechselt und die heimliche Angebetete des in sich gekehrten Jungen beleidigt, eskaliert die Situation. Was als scheinbar artifizielles Stillleben begann, entwickelt sich über die Sozialstudie zum Krimi und endet im  Wahn. Ein Film, der es einem nicht leicht macht, dessen Dynamik man sich aber nur schwer entziehen kann. Gewalt erzeugt Gegengewalt, und analog zur Theorie des Darwinismus im Schulunterricht demonstriert Aslan sein Verständnis von „Survival of the fittest“ an Bolat. Leider verpasst Filmemacher und Drehbuchautor Baigazin in seinem ersten Langfilm mehrfach den Moment, den Film zu beenden. Trotz einiger dramaturgischer Schwächen dürfte „Harmony Lessons“ im engeren Kreis der Bärenkandidaten zu finden sein.

Oh Boy

Szene mit Judy Davis und River Phoenix in „Dark Blood“ (Foto: dapd)

Am 31. Oktober1993 starb River Phoenix im Alter von 23 Jahren an den Folgen einer Überdosis Drogen. Die Arbeit an seinem letzten Film, George Sluizers „Dark Blood“, der im Wettbewerb der Berlinale außer Konkurrenz gezeigt wird, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht beendet. Nach dem plötzlichen Tod des Hauptdarstellers fiel das Filmmaterial an die Versicherung, die für den Abbruch der Dreharbeiten aufkam. Jahre später gelang es dem Regisseur, das Material vor seiner endgültigen Vernichtung zu bewahren. 2012 nahm er die Arbeit an dem Film wieder auf. Die fehlenden Szenen werden von Sluizer eingesprochen.

Das Schauspielerpaar Buffy (Judy Davis) und Harry (Jonathan Pryce) ist unterwegs in ein romantisches Wochenende. Mit dem alten Bentley des Gatten fahren sie durch eine von Nukleartests verseuchte Wüste mitten in den USA. Nach einer Autopanne stranden die beiden in einem heruntergekommenen Motel. Der Motorschaden wird von einem debilen Mechaniker notdürftig behoben, die beiden setzen ihre Reise fort und landen endgültig irgendwo in the middle of nowhere.

Boy (River Phoenix) nimmt die beiden Selbstdarsteller bei sich auf. Einsam erwartet er auf einem Berg das Ende der Welt. Nachdem er zunächst seine Hilfe anbietet, beginnt er seine beiden Besucher mehr und mehr als Gefangene zu halten, wobei er ein Auge auf Buffy geworfen hat. Die verblühende Schönheit findet zunächst Gefallen an den Avancen des deutlich jüngeren Mannes. Als dessen Werben immer irrer wird, schließt sie sich einem verzweifelten Fluchtversuch ihres Ehemannes an. In diesem psychedelischen Trip in einem vergifteten Land gibt es kein Gut und kein Böse. Jeder kämpft für sich alleine. Der verlassene Boy ist auf der Suche nach ein wenig menschlicher Wärme und hat doch schon fast den Kontakt zu den Menschen verloren. Ein Film, der das Schicksal seines Hauptdarstellers schon vorweg zu nehmen scheint.

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