Berlinale 2013 – Jeremy Irons fährt Zug und: Das Leben geht weiter
Am siebten Wettbewerbstag der 63. Internationalen Filmfestspiele in Berlin folgt auf die Erschöpfung des Vortags ein erster Anflug von Wehmut, dass bald alles vorbei ist. Außerdem: Wer nicht zahlen kann, muss sterben, Männer allein im Wald und Jeremy Irons auf Selbsterfahrungstrip in Portugal.
Auf der Berlinale gibt es, neben guten Projektionen, vor allem zwei Wartezustände für den akkreditierten Festivalbesucher: stehend in der Schlange vor dem Kino (rechtzeitiges Erscheinen sichert bei freier Platzwahl nicht nur den Lieblingssessel, sondern, je nach Spielstätte, überhaupt eine Sitzgelegenheit), sitzend im Kino vor dem Film, und dann geht’s los …
Draußen vor der Stadt
Winter, irgendwo in einem kleinen Dorf in Bosnien-Herzegowina. Das bescheidene Leben einer Roma-Familie geht in „Epizoda u zivotu beraca zeljeza“ (An Episode in the Life of an Iron Picker) von Danis Tanovic seinen Gang. Vater Nazif schlachtet Autos aus und verkauft das Altmetall an einen Schrotthändler, Mutter Senada kümmert sich um die beiden kleinen Töchter und den Haushalt.
Da erkrank Senada schwer. Der Fötus ihres dritten Kindes ist im Mutterrleib gestorben. Für die dringend benötigte Ausschabung fehlt das Geld. Das Krankenhaus weigert sich, die nicht krankenversicherte Senada zu behandeln. Auch wenn die Dorfgemeinschaft im Rahmen ihrer bescheidenen Möglichkeiten bereit ist zu helfen, übersteigt diese Summe die Möglichkeit aller. Den vage in Aussicht gestellten Hilfsmaßnahmen von sozialen Organisationen misstraut Senada. Mit dem wenigen, was das Altmetall einbringt, wird Nazif das Geld in der Kürze der Zeit nicht beschaffen können. Senadas Zustand verschlechtert sich. Mit einem Trick gelingt es, in einem anderen Krankenhaus den lebensnotwendigen Eingriff vornehmen zu lassen. Zurück im Dorf zerlegt Nazif sein eigenes Auto, um die teuren Medikamente für seine Frau und die offene Stromrechnung bezahlen zu können. Das Feuer im Ofen brennt, der Fernseher läuft. Die Familie kann den Abend gemeinsam auf dem Sofa verbringen.
Danis Tanovic erzählt unaufgeregt, ohne Effekthascherei in dokumentarischen Bildern aus dem Leben seiner Laiendarsteller, deren geschichte sich genau so zugetragen hat. Tanovic hatte aus einer Zeitung davon erfahren. Er vermeidet jede Hysterie, weil sie auch seinen Darstellern fremd ist, lässt den sozialen Realismus der Geschichte nicht zum Kitsch verkommen und bewegt dadurch um so mehr. “ Epizoda u zivotu beraca zeljeza“ gerät dadurch um so stimmiger. Die kurze Episode aus dem Leben eines Schrottsammlers ist zu Ende erzählt. Das Leben geht weiter.
Gehen zwei Männer in den Wald
„Prince Avalanche“ von David Gordon Green erzählt die Abenteuer von Alvin (Paul Rudd) und Lance (herrlich unterbelichtet: Emile Hirsch) im Sommer 1988 in einem von Bränden zerstörten und fast menschenleeren Waldgebiet. Die beiden Helden haben die Aufgabe, die Fahrbahnmarkierungen auf der endlosen Landstraße zu erneuern. Übernachtet wird im Zelt. Während der verkannte Schöngeist seiner Freundin glühende Liebesbriefe schreibt und den Naturmenschen in sich gefunden zu haben glaubt, ist Collegeboy Lance nicht die hellste Kerze unter der Sonne. Er vermisst die Segnungen, die das Stadtleben für potente Kerle wie ihn bereit hält. Unterbrochen wird die stumpfsinnige Arbeit nur durch einen Trucker, der immer wieder wie aus dem Nichts auftaucht und die beiden Helden mit Alkohol versorgt, und eine Dame mit Hut. Da hocken die beiden in der Vormobilfunkzeit also in der Einöde aufeinander und müssen sich miteinander arrangieren.
Während Alvin auch an den Wochenenden die Einsamkeit sucht, stürzt sich Lance mit hochgezogenen Tenniskniestrümpfen ins wilde Partyleben. David Gordon Green ist mit diesem Remake des isländischen Films „Either Way“ ein wunderbar leichter, komischer On-the-Road-Buddy-Film gelungen, der dank seiner herrlichen Hauptdarsteller vor allem eins macht: Spaß!
Ein Nachtzug wird kommen
Bille Augusts „Night Train to Lisbon“ (Nachtzug nach Lissabon), nach dem gleichnamigen Bestseller von Pascal Mercier, läuft im diesjährigen Wettbewerb der Berlinale außer Konkurrenz. Jeremy Irons spielt in dieser gediegenen Kinoadaption, unter dem bedeutungsschwangeren Dauergeklimper eines Pianos, den ältlich verkniffenen Lehrer Raimund Gregorius, der eines schönen Morgens aus seinem Alltagstrott gerissen wird, als er eine junge Frau in einem roten Mantel davon abhält, von einer Brücke zu springen. Kurze Zeit später verschwindet die Unbekannte. In der Tasche ihres Mantels findet er ein Buch und Bahntickets für den titelgebenden Nachtzug nach Lissabon. Der im Verlauf des Films mehrfach mit seiner Langweiligkeit kokettierende Raimund Gregorius besteigt den Zug und fährt nach Portugal.
Die Geschichte des Buchs führt ihn auf die Spur eines jungen Mannes und seiner Freunde in den Zeiten der Salazar-Diktatur. In Rückblenden sehen wir Episoden aus dem Leben von Amadeu de Parado. Raimund Gregorius spürt ihm und seinen Gefährten im heutigen Lissabon nach. An der Seite von Irons spielen unter anderem Mélanie Laurent, Martina Gedeck, August Diehl, Bruno Ganz, Lena Olin, Christopher Lee und, schön verhärmt, Charlotte Rampling.
Eine Geschichte, über die alte Sehnsucht nach dem einen Moment im Leben, der alles verändert. Der Erlösung aus dem Alltag bringt und noch einmal alles möglich macht. Alles Alte, das einen umgibt, wird abgestreift wie ein Mantel und der Zug in eine neue verheißungsvolle Zukunft bestiegen. Leichtfüßig wagen wir den Schritt ins Unbekannte, das nur besser werden kann als alles, was uns jetzt umgibt, und etwas besseres als den Tod finden wir überall. Ach, wenn es doch nur so einfach wär’. Durch die Rekonstruktion der Lebensgeschichten findet unser Held zu sich selbst und eine neue Liebe keimt. Wie schön. Ein Film für einen verregneten Sonntagnachmittag … für den, der’s mag.
Mehr Bilder gibt’s auf Instagram. – Das Special zur Berlinale auf LVZ-Online.
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