Berlinale 2020 – Der König ist tot
Eine Anarcho-Komödie aus Frankreich, Brüderchen muss sterben und Willem Dafoe spricht mit einem Fisch – die Wettbewerbs-Beiträge am Berlinale-Montag.
Gott lebt in Frankreich auf einem Windrad – und ist Hacker
Marie verscherbelt online ihre letzten Möbel, trinkt zu viel und sucht mitten in der Nacht ihren 15-jährigen Sohn bei dessen Vater heim. Außerdem hat sie Sex mit einem jungen Schnösel, der sie anschließend mit einem Sextape erpresst. Der alleinerziehende Vater Bertrand kann bei Werbeanrufen nicht Nein sagen und verliebt sich in die Telefon-Stimme einer Verkäuferin für überdachte Veranden. Gleichzeitig will er seiner Tochter helfen, die im Netz gemobbt wird. Christine ist ehemalige Aufseherin in einem Atomkraftwerk, TV-Serien-abhängig und erhält als Chauffeurin für einen Fahrservice nur schlechte Bewertungen. Die Drei sagen im französischen Wettbewerbsbeitrag „Effacer l’historique“ (Dele history / Verlauf löschen) gemeinsam dem Schweinesystem den Kampf an. Gott – Hacker, Kapitalist und Ökoaktivist – soll von seiner Schaltzentrale in einem Windrad alle negativen Daten löschen. Bis nach Irland und Palo Alto reichen seine Fähigkeiten aber nicht. Die drei Helden der Vorstadt müssen selbst tätig werden.
Neben ihren glänzenden Hauptdarstellern Blanche Garden (Marie), Denis Podalydès (Bertrand) und Corinne Masiero (Christine) ist es den Filmemachern Benoit Delépine und Gustav Kervern gelungen, so brillante Schauspieler und Laiendarsteller wie Benoît Poelvoorde als Fahrradbote am Rande des Nervenzusammenbruchs, Vincent Lacoste als fiesen BWL-Studenten und Michel Houellebecq als Michel Houellebecq zu verpflichten.
Was wie eine oberflächliche und artifiziell überzeichnete Konsumkritik und Medienschelte beginnt, wird zur radikal anarchistischen Systemkomödie. Marie, (Blanche Garden), Bertrand (Denis Podalydès) und Christine (Corinne Masiero) rechnen mit sozialen Netzwerken, Online-Shopping und medialer Reizüberflutung ab – und dringen dabei bis ins Herz der Finsternis vor. Wer danach noch schlechte Laune hat, fährt mitten auf den nächsten Kreisverkehr und brüllt einfach mal den Frust raus.
Brüderlein, Brüderlein, du wankest so matt
Die ehemalige Bühnenautorin Lisa (Nina Hoss) reist aus der Schweiz nach Berlin, um ihrem an Krebs erkrankten Zwillingsbruder beizustehen. Sven (Lars Eidinger) hofft, bald seine erfolgreiche Arbeit an der Schaubühne fortsetzen zu können. Mutter Marthe, ebenfalls Schauspielerin, ist mit der Pflege des stark geschwächten Sohnes vollkommen überfordert. Lisa beschließt, den Bruder mitzunehmen. Die gute Bergluft und ihre Familie sollen die Genesung beschleunigen. Die Hoffnung erfüllt sich nicht. Svens Zustand verschlechtert sich und an der Schaubühne nimmt man seine Paraderolle, den Hamlet, vom Spielplan. Die Geschwister reisen noch einmal in ihre Heimatstadt, um gemeinsam an einem Stück zu arbeiten.
Lars Eidinger ist im Wettbewerbsbeitrag „Schwesterlein“ von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond ein großer sterbender König. Sein gepeinigter Körper eine einzige schmerzende Wunde. Ihm zur Seite die brillante Nina Hoss, die dem Bruder den letzten Vorhang überlässt. Keine Einstellung, kein Wort ist zu viel. Jede Rolle ist glänzend besetzt. Das Ensemble kreist um die Geschwister, die einander verlassen müssen.
Lisa widmet Sven einen letzten Monolog-Dialog auf der Grundlage von „Hänsel und Gretel“. Die innig verbundenen Geschwister müssen in größter Not ihr Heim verlassen und in den finsteren Wald aufbrechen. Dort wartet die Hexe, die beide fressen will.
Alter Mann, was nun?
Wenn alte weiße Männer das welke Fleisch noch einmal ins pralle Leben stürzen und ein Kind der Liebe Busen und Bauch der jungen Geliebten anschwellen lässt, dann ist es Zeit, inne zu halten und Lebensbilanz zu ziehen. Die Beziehung mit den greisen oder bereits toten Eltern muss geklärt werden. Frieden und Freundschaft mit dem inneren Kind sind zu schließen. Regie-Altmeister Abel Ferrara (Bad Lieutenant) schickt sein Alter-Ego Willem Dafoe in „Siberia“ auf einen Psychotrip durch Eis, Schnee und ein Todeslager.
All die schönen Frauen, die er zu sehr geliebt hat, werden noch einmal über den Küchentisch gelegt. Der Vater erscheint zum letzten Halali. Mutter hat den Buben immer zu spät von der Schule abgeholt und stirbt deshalb ganz für sich allein. Der Wahrheitssucher und Küchenphilosoph muss tief hinabsteigen, um zum Schöpfer seines Universums werden zu können. Am Ende liegt die Welt des Mannes in Schutt und Asche, die Sprache des Fisches im Blechnapf versteht er nicht. Wer den Kino-Saal nicht vorzeitig verließ, hatte viel zu lachen.
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