Berlinale 2019 – Fürchtet euch vor den schweigsamen alten Männern
Adèle und Jimmy können tote Menschen sehen, ein Vater mit drei Töchtern und Christian Bale zieht als Dick Cheney ins Weiße Haus ein. Der Wettbewerb der 69. Internationalen Filmfestspiele Berlin ist ein langer träger Fluss.
Manchmal kommen sie wieder
Ein Auto rast gegen eine Mauer, kleine Menschen mit seltsamen Masken schauen hinein, ein junger Mann dreht durch. Nach dem Selbstmord von Simon ist in Irénée-les-Neiges nichts mehr so, wie es einmal war. Der Vater verschwindet, die Mutter vertreibt die bösen Geister mit glimmendem Salbei. Die Bürgermeisterin versucht es mit Alkohol und Durchhalteparolen. Die Krisenpsychologin aus Quebec muss gehn. Ein Sturm zieht auf.
Wer geistert da über eisige Felder und durch verlassene Häuser? Die Toten sind zurück im 215-Seelen–Dorf. Schweigsam stehen sie da und schauen. Handkamera, 16mm, grau und verwaschen kommt Denis Côtés „Répertoire des villes disparues“ (Ghost Town Anthology) daher. So rätselhaft wie die Motivation für den Film bleibt die erneute Einladung Cotés in den Wettbewerb der Berlinale. Die Erwartung, dass da noch etwas passieren könnte, wird nicht erfüllt. Über die Behauptung des paranoiden Mystery–Thrillers kommt diese kleine Geisterstadt nicht hinaus. Die Toten sind gekommen, um zu bleiben – die Lebenden müssen weichen.
Viel Palaver um nichts
Es war einmal in einem abgelegenen Bergdorf in Anatolien, ein alter Vater mit seinen drei Töchtern. Die Älteste wurde als Dienstmagd in die Stadt geschickt, kam schwanger nach Hause und wurde schnell mit dem einfältigen Schafhirten verheiratet. Die Zweitälteste wurde als Dienstmagd in die Stadt geschickt, hat das Kind der Herrschaft geschlagen und musste nach Hause. Die Jüngste wurde als Dienstmagd in die Stadt geschickt, in ihrem Haushalt stirbt ein Kind, Zeit für die Rückkehr in die Berge. Vater, Töchter, Enkel und der angeheiratete Hirte leben zusammen im bescheidenen aber ordentlichen Steinhaus.
Der Dorftrottel ist eine Frau – sie schlägt gerne Purzelbäume.
Am Abend kommen der Vater, der Dorfälteste und der Arzt zusammen. Da wird viel geredet am Lagerfeuer und am Kamin in der kargen Stube. Die Frauen zanken, aus den Männern spricht der Alkohol. So vergeht die Nacht. Geschwätzige Geschichten voller Lokalkolorit bringt Emin Alper in „Kız Kardeşler“ (A Tale of Three Sisters) in den Wettbewerb der Berlinale.
Ein Unglück geschieht – und es ist Winter. Der Vater und seine Kinder sitzen zusammen am Kamin in der kargen Stube. Zeit für eine Geschichte über undankbare Töchter.
Männer, die die Welt erklären
Außer Konkurrenz darf es im Wettbewerb der Berlinale auch ein bisschen unterhaltsam werden. So kann auch der eine oder andere Hollywood–Star ins frostige Berlin gelockt werden. Oscar–Preisträger Adam McKay präsentiert seine mit Christian Bale, Amy Adams, Steve Carell und Sam Rockwell hochkarätig besetzte Polit–Klamotte „Vice – Der zweite Mann“ über Dick Cheney, den mächtigsten US–Vizepräsidenten aller Zeiten, in der Hauptstadt. Geschickt verbindet er dabei Spielszenen und dokumentarisches Filmmaterial zu einer haarsträubend unterhaltsamen Geschichtslektion.
Dass es soweit kommen konnte, war zu Beginn der beruflichen Laufbahn von Cheney nicht abzusehen. Mittelmäßiger Schüler, mittelmäßiger Sportler, versoffener Student – Gattin Lynne muss ein strenges Wort mit dem tumben Gatten sprechen, damit dieser den Ernst der Lage erkennt. Von da an geht es nur noch nach oben. Über die Nixon–Administration und Donald Rumsfeld führt der Weg ins Zentrum der Macht. Geschickt konzentriert Cheney an der Seite von George W. Bush eine bislang nie dagewesene Machtfülle auf das eigentlich nur repräsentative Amt des zweiten Mannes im Staate. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 schlägt seine große Stunde. Die alten weißen Männer in Washington machen sich die Welt und ihre Feinde, wie es ihnen gefällt.
Christian Bale hat sich für die Rolle ordentlich Kilos angefuttert. Feist gibt er den schweigsamen Machtmenschen Dick Cheney – der sich zwischen Wahlkampf und Angelausflügen immer mal wieder mit einem Herzinfarkt selbst ins Krankenhaus einweist. Ein schrecklich komisches Sittengemälde. Wer es nüchterner mag, schaut die Doku “Der Irak Krieg – Es begann mit einer Lüge”.
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