Berlinale 2019 – Liebesgrüße aus Leipzig
Stunde der Lokalpatrioten bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin – Leipzig brilliert außer Konkurrenz an der Seite von Diane Kruger und Martin Freeman. “Mr. Jones” geht auf eine lange Reise und Gott existiert, ist eine Frau und lebt in Mazedonien. Tag vier im Wettbewerb der Berlinale.
Wer bin ich – und wenn ja wie viele?
Spätestens seit James Bond wissen wir, dass heimatlose Waisenkinder von Geheimdiensten besonders gerne rekrutiert werden. Rachel (Diane Kruger), die vielleicht ganz anders heißt, unterrichtet Fremdsprachen an einer internationalen Schule in Leipzig. Geboren ist sie eventuell in Australien, aufgewachsen in Kanada, ihr Herz hängt aber an Israel. Der Mossad ist interessiert und wirbt die spröde Polyglotte an. Die Undercover-Mission führt sie nach Teheran. Dort lässt sie sich auf eine Affäre mit dem smarten industriellen Fünf-Tage-Bart-Träger Farhad (Cas Anvar) ein. Ihre Aufträge werden riskanter und kosten Menschenleben – Rachel will aussteigen. Aber die Familie verlässt man nicht …
Yuval Adler inszeniert „The Operative“ (Die Agentin), nach dem Roman “The English Teacher” von Yiftach Reicher Atir als konventionellen Spionage-Thriller ohne Überraschungen. Die beste Nebenrolle geht an Leipzig und den Hauptbahnhof der Heldenstadt. Der Film läuft außer Konkurrenz im Wettbewerb der Berlinale.
“Alle Tiere sind gleich – aber manche sind gleicher”
Gareth Jones, 26-jähriger walisischer Journalist und Politikberater des britischen Premierministers David Lloyd George, bereist im Sommer 1931 erstmals die Sowjetunion. In der Ukraine, der Kornkammer der UdSSR, wird er Zeuge der verheerenden Hungersnot als Folge von Stalins Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Jones verfasst umgehend einen ersten Bericht zur Lage für die New York Times.
Die polnische Regisseurin und Berlinale-Veteranin Agnieszka Holland schickt “Mr. Jones” erstmals im Hungerwinter 1933 über Moskau in die Ukraine und bindet dabei immer wieder geschickt kurze Original-Zeitdokumente in den Film ein. Die Schar der Auslandskorrespondenten lässt es unterdessen in der sowjetischen Hauptstadt bei Wodka, Morphium und leichten Mädchen weiter krachen. Insbesondere Pulitzer-Preisträger Walter Duranty glänzt durch seine stalinismusfreundliche Berichterstattung.
Wer ist Schwein, wer ist Mensch?
Gareth Jones (James Norton) ist ein einnehmender Beobachter und eine Zierde seiner Zunft – unbestechlich, neugierig, keine Drogen, kein Alkohol. Er sieht eine Not gewaltigen Ausmaßes. Leichen liegen auf den Straßen, Waisen werden zu Kannibalen, Mütter sterben entkräftet vor den Augen ihrer Kinder. Zurück in der Heimat, will Jones die Öffentlichkeit informieren, doch ach, wie so häufig gilt der Prophet wenig im eigenen Land. Seine eindringliche Schilderung soll George Orwell zu seiner dystopischen Parabel “Farm der Tiere” inspiriert haben. Und der große Bruder vergisst nicht, Gareth Jones wird am 12. August 1935 – einen Tag vor seinem 30. Geburtstag – in China erschossen.
Die Ukraine ist groß, die Reise lang – erneut wird bei diesem Wettbewerbsbeitrag die Relevanz des Themas mit der Spieldauer auf der Leinwand gleichgesetzt. Ein 141-Minuten-Film, so nüchtern wie ein statistischer Quartalsbericht.
Männer und ihre Spielzeuge
Petrunija, 32, Historikerin, arbeitslos. Um sich frei zu fühlen, wäre sie gerne den ganzen Tag nackt. Geht nicht, Mutti hat das nächste Vorstellungsgespräch organisiert. Der potentielle Chef befindet sie nach einem beherzten Griff zwischen ihre kräftigen Oberschenkel für zu alt und zu hässlich. Auf dem Heimweg gerät sie an diesem frostigen Dreikönigstag in die traditionelle Kreuzprozession. Wer das Symbol für das Leiden Christi aus dem eisigen Fluss fischt, hat ein Jahr Glück. Petrunija springt – und gewinnt.
In der mazedonisch-orthodoxen Kirche ist ein solcher Akt weiblicher Selbstermächtigung nicht vorgesehen. Petrunija schnappt sich ihre Beute und geht Heim. Die Mutter tobt, der testosterongeladene Mob vor der Polizeistation sieht rot, Vati schweigt, die Ermittler sind ratlos und die Presse wittert einen Skandal.
Teona Strugar Mitevska ist mit „Gospod postoi, imeto i’ e Petrunija“ (God Exists, Her Name Is Petrunya) ein kleiner aber feiner Film über falsche Götter und Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs gelungen, der auch Dank seiner wunderbaren Hauptdarstellerin Zorica Nusheva durchaus Außenseiterchancen im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale haben könnte.
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