Berlinale 2018 – Von Monstern und Menschen
72 Minuten monströser Massenmord auf Utøya, drei Tage im Leben der kapriziösen Filmikone Romy Schneider, sieben Tage Geiselnahme in Entebbe und vier Stunden philippinisches Rockmusical in schwarz-weiß. Berlinale-History am Wettbewerbsmontag.
Renn, wenn du kannst
Am 22. Juli 2011 explodiert im Osloer Regierungsviertel eine Autobombe. Kurz darauf eröffnet der rechtsradikale Massenmörder Anders Behring Breivik auf der norwegische Insel Utøya das Feuer auf die Teilnehmer des Sommerferiencamps der norwegischen Arbeiterpartei. 72 Minuten schießt er auf Kinder, Jugendliche und ihre Betreuer.
72 Minuten fliehen wir in einer einzigen ungeschnittenen Einstellung mit Kaja über die Insel. Verzweifelt auf der Suche nach ihrer jüngeren Schwester Emilie, von der sie sich im Streit getrennt hat. Schüsse fallen. Immer wieder Schüsse. Die Orientierung fällt schwer im Wald.
Wo bleibt die Rettung? Jugendliche springen in Panik ins eiskalte Wasser. Kinder verbluten im Schlamm. Die Intensität der nervös jagenden Kamera trifft ins Mark. Kälte und Panik setzen Darstellern und Zuschauern zu.
Darf man das Grauen verfilmen? Ein monströses Ereignis, das uns allen noch gegenwärtig ist, fiktionalisieren? Muss eine Katastrophe bebildert werden? Erik Poppe nähert sich im Internationalen Wettbewerb der Berlinale mit “Utøya 22. juli” (U – July 22) einem nationalen Trauma. Durch die selbst gewählte Dramaturgie geht er ein hohes Risiko ein. Überträgt den Schock ungefiltert und unkommentiert auf die Leinwand. Ein Film, der keinen Zuschauer unberührt lässt und für kontroverse Debatten sorgt.
Warten auf Romy
Der Stern-Journalist Michael Jürgs (Robert Gwisdek) besucht 1981 Romy Schneider in einem luxuriösen Kur-Hotel im Seebad Quiberon in der Bretagne. Dort will die Schauspielerin vom Alkohol und den Tabletten loskommen und sich für ihr nächstes Filmprojekt erholen. Trotz ihrer schlechten Erfahrungen mit der deutschen Presse hat sie einem Interview zugestimmt. Begleitet wird Jürgs von dem Fotografen Robert Lebeck (Charly Hübner), ein guter Freund Romys, dem sie vertraut.
Um dem Alleinsein zu entgehen, hat die vollkommen erschöpfte Schauspielerin ihre Freundin Hilde (Birgit Minichmayr) ebenfalls eingeladen. Die vier verbringen “3 Tage in Quiberon”. Emily Atef rekonstruiert im gleichnamigen Wettbewerbsbeitrag anhand des legendären Interviews und der ikonographischen Bilder, die um die Welt gegangen sind und sich ins kulturelle Gedächtnis eingegraben haben, die Zeit am Meer.
Marie Bäumer verschmilzt in dieser Schwarz-Weiß-Studie gleichsam mit den Fotografien. Jede Geste, jedes Blinzeln scheint man schon einmal gesehen zu haben. Die Kamera studiert in intensiven Nahaufnahmen jede einzelne Falte ihres Gesichts. Die zutiefst unglückliche und sich selbst vollkommen verausgabende Schneider ist im einen Moment manische Menschenfängerin, im nächsten manipulative Soziopathin.
Alles ist Spiel. Alles dreht sich um sie. Selbstmitleidig sucht sie unter Alkohol und Tabletten immer nach ihrem Publikum. Der Star fällt und alle springen. Sie ist das helle Licht, um das die Motten kreisen. Dabei verbrennt sie selbst. Das ist gefällig inszeniert, dazu Geigen im Dreivierteltakt. Ein Film für die gepflegte Sonntags-Matinée. Bäumer dürfte sich in die Riege der Bärenkandidatinnen gespielt haben.
Operation Entebbe
Am Sonntag, den 27. Juni 1976, wird eine Air-France-Maschine auf dem Weg von Tel Aviv nach Paris, nach einem Zwischenstopp in Athen, von zwei Mitgliedern der “Volksfront zur Befreiung Palästinas – Auswärtige Operationen” und den deutsche Terroristen Wilfried Böse (Daniel Brühl) und Brigitte Kuhlmann (Rosamund Pike) entführt.
Auf dem Flughafen von Entebbe schließen sich weitere Terroristen der Gruppe an. Schnell werden hier alle jüdischen Passagiere von den restlichen Fluggästen getrennt. Öffentlichkeitswirksam lässt der ugandische Diktator Idi Amin nichtjüdische Geiseln ausreisen.
Mit der Entführung sollen insgesamt 53 Gefangene freigepresst werden. Die israelische Staatsführung unter Ministerpräsident Jitzchak Rabin und Verteidigungsminister Schimon Peres (der immer großartige Eddie Marsan) vertritt eine strikte “No Talks”-Politik.
Der bereits mit einem Goldenen Bären ausgezeichnete José Padilha zeichnet in “7 Days in Entebbe” anhand des historischen Materials die Situation in Israel und auf dem Flughafen in Uganda nach. Während die Entführer auf Verhandlungen hoffen, beginnt die Planung der militärischen Befreiungsaktion. Der außer Konkurrenz im Wettbewerb laufende Film zeichnet routiniert und spannungsgeladen die Ereignisse im Sommer 1976 nach.
In der Nacht zum 4. Juli 1976 beginnen israelische Elitesoldaten mit der hochriskanten militärischen Befreiungsaktion „Operation Thunderbolt“.
Musik, Gesang, Tanz und Puppenspiel
Der philippinische Filmemacher Lav Diaz ist zurück im Wettbewerb der Berlinale. 2016 brach er mit “Hele Sa Hiwagang Hapis” (A Lullaby to the Sorrowful Mystery) noch den Laufzeitrekord des Festivals. 482 Minuten musste das Publikum bei seinem Schwarz-Weiß-Revolutionsepos bis zum bitteren Ende ausharren.
2018 reicht es nur für 234 Minuten. Wieder in schwarz-weiß, dafür mit Musik und Gesang. Der Regisseur und Drehbuchautor ist für “Ang Panathon ng Halimaw” (In Zeiten des Teufels) unter die Liedertexter für eine Rockoper gegangen. Wenn da mal nicht unbesehen von der Jury bereits ein Bärchen bereitgelegt worden ist.
So viel Schaffenskraft macht allerdings misstrauisch. Wurde bei der Geschichte um ein brutal unterdrücktes Urwalddorf vielleicht erneut zu wenig Sorgfalt auf Stoffentwicklung, Drehbuch und vor allem Schnitt verwandt?
Auch hier werden wahre Begebenheiten bemüht, um sich künstlerisch auszudrücken. Ein Film für Menschen mit sehr viel Liebe zum Musical und noch mehr überflüssiger Lebenszeit.
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