Berlinale 2018 – Warmer Abriss mit Geschlechtsverkehr

Die Geschichte einer Auferstehung, Mütter und Töchter, eine fiese Alte dreht durch und warum man den Wettbewerbstag nie vor dem letzten Film loben sollte.

Wunder geschehen

Für Filmfreunde war der Internationale Wettbewerb der Berlinale 2018 bislang eine beschwerliche Wanderung durch ein finsteres Tal auf der Suche nach der Quelle. Ausgerechnet am Sonntag zeigt sich ein Silberstreif am Horizont.

Beten und Arbeiten, mehr hat die tief religiöse Gemeinschaft jungen Drogenabhängigen in “La prière” (Das Gebet) von Cédric Kahn nicht zu bieten. Dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen, gelingt es dem schwer gezeichneten Thomas nur mühsam, sich einzufügen. Voll Zorn rebelliert er gegen die Gruppe und ihre strengen Regeln.

La prière | The Prayer © Les films du Worso / Carole Bethuel

“La prière” ist karg und ungeschliffen wie die raue Bergwelt, in der die Gemeinschaft ihr Zuhause gefunden hat. Kraftvoll, widerständig und voll Hoffnung das Spiel von Anthony Bajon. Als Thomas kämpft er jungenhaft mit seinen Dämonen, dem Glauben und einem Gott, der sich ihm nicht zeigt.

Kahn mutet es uns zu, an der Seite von Thomas in diese spirituelle Abgeschiedenheit einzutauchen. Zweifelnd lauschen wir wieder und wieder dem “Gegrüßest seist du Maria”. Erwarten Gewalt und sexuelle Übergriffe. Kahn hat die “Matthäus-Passion” für uns.

Allmählich findet Thomas Halt in der Struktur. Auf Schnee und Eis folgen Frühling und Sommer. Thomas übernimmt Verantwortung für sich und Neuankömmlinge. Erkennt sich in der Schwäche und dem Aufbegehren der anderen wieder. Auf dem Rückweg von einer Wanderung mit der Gemeinschaft verliert Thomas den Anschluß an die Gruppe und kommt vom Weg ab.

Es war ein heißer Sommer

Hochsommer irgendwo auf Sardinien abseits der touristischen Hochburgen. Tina umsorgt wachsam ihre 10-jährige Tochter Vittoria. Arbeitet fleißig und kümmert sich rührend um Außenseiterin Angelica, die gemeinsam mit ihren Tieren irgendwo in der staubigen Einöde auf einem heruntergekommenen Hof haust.

Figlia mia | Daughter of Mine © Vivo film / Colorado Film / Match Factory Productions / Bord Cadre Films

Das blaue Schlauchkleid reicht von den Brustwarzen bis über den Schritt. Der erste Hofgang wird im Tigerhöschen und Spaghettiträger-Top erledigt. Angelica schläft im Dreck und für den nächsten Schnaps bläst sie dem edlen Spender schon mal einen.

Vittoria ist fasziniert – umso mehr, als Mutter Tina ihr den Umgang verbietet. Mit Angelica geht sie Risiken ein, tanzt zu Partymusik. Zu Hause teilt sie das rosafarbene Schlafzimmer noch immer mit der Mutter. Bestimmt fordert sie mehr Privatsphäre für sich ein.

Das zarte rothaarige Mädchen erobert Schritt für Schritt eine Welt, die sie bislang als Außenseiterin nur beobachtet. Mutter Tina kann nicht loslassen. Was zwischen ihr und Angelica steht, bricht endgültig auf.

Die Kamera in Laura Bispuris “Figlia mia” (Daughter of Mine) ist unruhig, fahrig und sprunghaft wie die unangepasste, chaotische und ordinäre Angelica. Grobkörnig zerfasern Bild und Frau. Alba Rohwachers Angelica ist vulgär, rau und verletzlich. Eine Frau mit vielen Facetten, nicht alle sind liebenswert.

Wehe, wenn sie losgelassen

Die 68-jährige Nojet erbt von ihrem Vater ein großes Mietshaus in bester Stockholmer Innenstadtlage. Sonnen- und partyverlebt kehrt die ausgemergelte Alte zurück in ihre Heimatstadt. Der Mehrgeschosser soll vergoldet werden.

Ihr angenehm sprachgestörter Halbbruder (wenigstens einer mit wenig Redeanteil) und sein versoffener Sohn haben ihre Hausmeisteraufgaben vernachlässigt und Wohnungen illegal untervermietet. Die zahllosen ungeregelten Mietverhältnisse machen einen Verkauf des Hauses unmöglich. Neigt sich das süße Nichtstun auf die alten Tage etwa dem Ende zu? Oder lässt sich da mit einem warmen Abriss finanziell vielleicht noch etwas retten?

Dunkelrot sind die verhornten Krallen manikürt. Das Schamhaar kaum ergraut. Die Frau hat nicht nur im knappen Fitnessleibchen noch einiges zu bieten. Axel Petersén und Måns Månsson inszenieren “Toppen av ingenting” (The Real Estate) als trashige Rentner-Amok-Klamotte mit Geschlechtsverkehr. Bislang größter Zuschauerschwund im laufenden Wettbewerb.