DOK Leipzig 2016: Fighter, Fukushima und Freischwimmer in Leipzig

Modellathleten auf dem Kriegspfad, Kindererziehung auf Kalenderblättern, verstrahltes Leben und ein Leipziger Seniorenschwimmkurs – „Disobedience“, „Ungehorsam“, ist das Motto des DOK Leipzig 2016. Vier Filme aus der offiziellen Auswahl des Festivals zelebrieren auf ganz unterschiedliche Weise diesen Anspruch.

Das Leben ist ein langer brutaler Kampf

Andreas „Big Daddy“ Kraniotakes, Lom-Ali „Leon“ Eskiyew und Khalid “The Warrior” Taha sind Mixed Martial Arts (MMA) Profis. Männer, die in einen Käfig steigen oder auf offener Bühne den Schlagabtausch mit einem Gegener suchen – fast ohne Limits. Susanne Binninger zeigt die drei Kämpfer in „Fighter“ nicht als tumbe Schläger. Die modernen Gladiatoren zahlen für ihren Sport einen hohen Preis. Das Alter und Niederlagen sind ihre Feinde – nicht nur der nächste Gegner. Ihr Alltag ist geprägt von Disziplin und hartem Training. Den Respekt und die Anerkennung, die den gegenseitigen Umgang miteinander prägen, fordern sie in Deutschland auch für sich. Ihr Kampf wird selten als Hochleistungssport anerkannt. Das Training muss neben der Arbeit absolviert werden. Geld ist mit MMA in Deutschland kaum zu verdienen. Darunter leidet die Vorbereitung – physisch und mental.

Männer wie Massivholzschrankwände sitzen hier am Abend gemeinsam am Küchentisch, schnippeln Gemüse, dünsten zartes Hühnerfleisch und tauschen Ernährungstipps aus. Schokolade, Kuchen, Zucker im Tee und Weißbrot sind tabu. Jedes Gramm Körpergewicht zählt. Vor den Kämpfen wird brutal abgekocht, um das Kampfgewicht zu erreichen.

Die Anspannung vor den Fights überträgt sich direkt auf den Zuschauer. Der Kampf ist für Andreas Kraniotakes die Urerfahrung des Menschseins. Sieg und Niederlage – kämpfen, fallen, aufstehen. Zuschauen wird zur Grenzerfahrung, die weh tut. Sog und Sound von „Fighter“ kann man sich nicht entziehen.

Fighter von Susanne Binninger, Internationales Programm, Deutschland, 2016, 100 Minuten

Mutter hat heute keine Hauptrolle für dich

Filmstar, Muse, Mutter – Nina Antonova hat viele Rollen gespielt in ihrem Leben, nicht immer konnte sie den Aufgaben die Tiefe einer Hauptrolle verpassen. Dokumentarfilmer Serhiy Bukovsky richtet in „The Leading Role“ die Kamera auf die raue Mutter. Das Gesicht gleicht einer rissigen Gebirgslandschaft, die Stimme ist spröde wie ein Reibeisen. 48 Jahre lang war sie mit dem Regisseur Anatoliy Bukovsky verheiratet, ein Mann, der alle Aufmerksamkeit und Energie aus seiner Umgebung absorbierte. Charismatiker, Arbeitstier, seit dem Tod 2006 schmerzlich vermisst. Das Kind Serhiy war auch da, aber auf sich gestellt. Botschaften und Anordnungen für den Tag in stakkatohaftem Ton, flüchtig in einen Kalender notiert, strukturierten den Alltag des Jungen. Kein Platz für Zärtlichkeit zwischen den Zeilen. Nach dem Warum fragt der erwachsene Sohn und erhält keine Antwort.

Die Mutter bleibt fern. Spielt in einer engen Wohnung voller Erinnerungen Leben nach. Da wird viel geredet, getrunken und geraucht und nichts gesagt. Ein bitterer Nachgeschmack bleibt.

The Leading Role (Golovna rol) von Serhiy Bukovsky, Internationaler Wettbewerb, Ukraine, 2016, 63 Minuten

Ein Leben ohne Hoffnung auf ein Morgen

Seit März 2011 verbinden wir den Namen der japanischen Stadt Fukushima mit einer atomaren Katastrophe ungeheuren Ausmaßes. Nachdem der Evakuierungsradius zunächst auf 20 km um das havarierte Atomkraftwerk festgelegt worden war, wurde er Anfang April 2011 auf 30 km erweitert. Der Mensch will vergessen und lässt sich einlullen. Allmählich kehren Tiere und Menschen in die kleine Stadt Minamisōma innerhalb der 20-km-Sperrzone zurück. In “Furusato” sucht Thorsten Trimpop Menschen und Orte auf, die versuchen, eine vergiftete und krankmachende Heimat zurückzuerobern.

Eine junge Generation hat im Frühling 2011 alles verloren, vor allem die Sicherheit eines Ortes, an den man jederzeit zurückkehren kann. Sicher ist nur noch das Wissen, dass es jederzeit wieder passieren kann. Man muss immer bereit sein zu gehen und alles hinter sich zu lassen. Vertriebene, die nach einem neuen Halt suchen. Schulkinder besingen vor einem Marathonlauf durch verstrahltes Gebiet eine rosige Zukunft – Umweltaktivisten stören da nur.

Auf einer riesigen Fläche sollen Erdreich und organisches Material zur Dekontaminierung der Region abgetragen werden. Arbeiter in weißen Schutzanzügen kratzen Moos von alten Steinmauern. Tonnen von strahlendem Material werden in schwarzen Säcken eingelagert. Halden gigantischen Ausmaßes entstehen. Eine junge Pferdezüchterin will die Farm der Familie retten und kann nur ihren Tieren beim Sterben zusehen. Die Geburt eines Fohlens ist kein Zeichen von Hoffnung mehr. Die Tiere verenden jämmerlich. Die Verzweiflung des Vaters steht stellvertretend für die Trauer von vielen, die alles verloren haben. Sie harren aus und blicken in eine ungewisse Zukunft.

Furusato von Thorsten Trimpop, Deutscher Wettbewerb, Deutschland/USA, 2016, 92 Minuten

„Schwimmen lernen, heißt leben lernen“

Treffen sich sieben ältere Menschen in Leipzig in einer Schwimmhalle, um sich in einem Seniorenschwimmkurs ihren Ängsten, ihren Träumen und ihren Spleens zu stellen. In zehn Tagen soll das Wasser vom Feind zum Freund werden. Susanne Kim nimmt uns in „Trockenschwimmen“ mit ins Becken. Freischwimmer im wahrsten Sinne des Wortes stehen hier zaghaft am Beckenrand. Jede und jeder mit einer eigenen Geschichte über das fremde Element. Über den Vater, der sein Versprechen, dem Sohn das Schwimmen beizubringen, nicht einlösen konnte. Der Badeunfall, der zum lebenslangen Trauma wurde. Die Flut, die fast zum Verhängnis wurde, und aus einer Schwimmerin eine Frau voller Angst gemacht hat. Sie alle haben sich neue Badekleidung besorgt und haben sich auf den Weg nach Leipzig gemacht. Hier soll ein neuer Abschnitt beginnen.

Warm ist der Blick auf die Protagonisten, ihre Eigenheiten und Macken. Mutig stellen sie sich der Kamera, lassen uns an ihrer Lebensgeschichte teilhaben und schicken uns mit einer optimistischen Botschaft aus dem Kinosaal zurück in die Welt: „Die Träume der Jugend reichen nicht für’s ganze Leben, du brauchst auch einen Traum für’s Alter!“

 

Trockenschwimmen von Susanne Kim, Deutscher Wettbewerb, Deutschland, 2016, 77 Minuten

Und was noch…!?

Geht alle in den zauberhaften Eröffnungsfilm „My Life as a Courgette“ von Claude Barras, mit wunderbarer Musik von Sophie Hunger. Entweder jetzt auf dem DOK Leipzig – alle Termine findet ihr hier – oder ab Februar 2017, dann läuft „Mein Leben als Zucchini“ in den deutschen Kinos an.