Berlinale 2014 – Stille Wasser sind aggressiv

„Es wird kalt werden, und es wird grau werden. Und so wird es dann sein für den Rest ihres ganzen Lebens“, außerdem im Programm: Wann ist ein Mann ein Mann, ein cineastischer Selbsterfahrungstrip für Anfänger und Fortgeschrittene und einsamer Ex-Cop verfällt unterkühlter Femme fatale. Siebter Tag im Internationalen Wettbewerb der Berlinale 2014.

Was bisher geschah: It’s a Man’s Man’s Man’s World.

Die im Dunkeln sieht man nicht!

Die im Dunkeln sieht man nicht!

Unabhängig davon, ob einem Filme gefallen oder nicht, gibt es immer wieder Werke, die aufgrund bestimmter Schlüsselreize einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Zum Beispiel Kartoffeln. Gekocht, geschält, gefressen oder in Körperöffnungen getragen bis sie austreiben – die Möglichkeiten, diesem Nachtschattengewächs ein filmisches Denkmal zu setzen, sind vielfältig und sicher weder ausgereizt noch hinreichend erforscht. Kartoffelbrei mit Soße, Salzkartoffeln, Kartoffeln mit Butter und Quark, Klöße, Pommes Frites, Kroketten – Erdäpfel sind nicht allein zum Essen da. Wir kommen später vielleicht noch einmal darauf zurück.

Nicolás liebt nicht große Worte

Nicolás (Alián Devetac) lebt mit seiner Mutter und seinen beiden Geschwistern in bescheidenen Verhältnissen irgendwo in der argentinischen Provinz. Vater Jorge taucht nur zu gelegentlichen Besuchen auf, die insbesondere von der Mutter herbeigesehnt werden. Der angesehne Arzt lebt den Alltag feudal bei seiner Zweitfamilie. Nicolás übernimmt als ältester Sohn Verantwortung für seine eigene Familie, tröstet die Mutter, organisiert die große Geburtstagsparty für seine Schwester und prügelt sich für seinen Halbbruder, der in der Schule gemobbt wird. Zusätzlich soll er den Erwartungen des Machovaters gerecht werden, der ihn zu seinem Nachfolger in der Praxis und auf der nach Gutsherrenart geführten Farm aufbauen will. Mit steinerner Miene scheint Nicolás jede neue Pflicht zu schultern, nur die Prostituierte, die der Vater ihm spendieren will, lehnt er ab.

Celina Murga erzählt uns in ihrem Wettbewerbsfilm „La tercera orilla“ (The Third Side of the River) die Geschichte eines stillen und dadurch um so entschlosseneren Rebellen. Früh ahnen wir, dass Nicolás mehr plant als Praktikum, Party und den nächsten Jagdausflug mit seinem Vater. Kühn schreitet er am Ende zur Tat. Bevor er sich zum ersten Mal entspannen darf, erfüllt er noch einmal seine Pflicht gegenüber der Schwester und fährt dann einer ungewissen Zukunft entgegen.

Der Flug des Falken

'Aloft' von Claudia Llosa.

‚Aloft‘ von Claudia Llosa.

Claudia Llosa ist zurück im Wettbewerb der Berlinale. 2009 wurde ihr Kartoffel-Film „La teta asustada“ (The Milk Of Sorrow) mit dem goldenen Bären ausgezeichnet. 2010 war das Werk mit dem deutschen Titel „Eine Perle Ewigkeit“ für den Oscar in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film nominiert. In „Aloft“ schickt Llosa ihren Protagonisten Ivan (Cillian Murphy) gemeinsam mit einer jungen Dokumentarfilmerin (Mélanie Laurent) auf eine Reise in die Vergangenheit. Ivan, seit frühester Kindheit immer in Begleitung eines Falken, wird auch diese Reise nicht ohne Raubvogel antreten.

Auf der Suche nach Heilung für Ivans Bruder Gully trifft deren Mutter Nana (wunderbar spröde, Jennifer Connelly) den „Architekten“. In fragilen Bauwerken aus dünnem Geäst empfängt er kranke Kinder. Manche werden gesund. Der „Architekt“ offenbart Nana, dass sie selbst die Gabe besitzt. Ein Unglück reißt die Familie auseinander. Nana verlässt Ivan. 20 Jahre später hat Nana irgendwo am Ende der Welt in einer Zeltstadt Jünger und Menschen, die Genesung suchen, um sich geschart. Eis, das nicht trägt, hat sie einst entzweit, jetzt muss Ivan erneut übers gefrorene Wasser gehen, um der Mutter begegnen zu können.

Ein Film voller versteckter Botschaften und Zeichen, esoterischer Heilsversprechen und mystischem Geschwurbel. Claudia Llosa will uns auf einen Selbsterfahrungstrip für gestresste Großstädter mitnehmen. Wer mit Räucherstäbchen bereits überfordert ist, wird es mit „Aloft“ nicht leicht haben. Immerhin: keine Kartoffeln.

Da steht ein Pferd auf dem Flur

Wir schreiben das Jahr 1999. Auf 15 Kohlehalden in sechs verschiedenen chinesischen Städten werden Leichenteile gefunden. Polizist Zhang Zili nimmt in „Bai Ri Yan Huo“ (Black Coal, Thin Ice) die Ermittlungen auf. Die Verhaftung Tatverdächtiger läuft vollkommen aus dem Ruder. Die potentiellen Täter und zwei seiner Kollegen sterben. Zhang überlebt schwer verletzt.

Fünf Jahre später, Zhang Zili arbeitet mittlerweile für einen privaten Sicherheitsdienst und trinkt, werden erneut Leichenteile gefunden. Mit Hilfe eines ehemaligen Kollegen ermittelt er fortan auf eigene Faust. Alle Spuren führen, wie bereits vor fünf Jahren, zur Mitarbeiterin eines heruntergekommenen Waschsalons. Alle Opfer standen in Beziehung zur ebenso schönen wie schweigsamen Wu Zhizhen. Zhang gibt sich als Kunde aus, verfolgt die geheimnisvolle Fremde und verliebt sich in sie. In der Zwischenzeit wird sein Ex-Kollege von einem grausamen Schlittschuhkiller filetiert.

Einsamer Polizist verfällt geheimnisvoller Femme fatale – Regisseur Diao Yinan versucht sich an einer klassischen Detektivgeschichte im Stile eines Film Noir. Über weite Strecken gelingt ein unterhaltsamer Genrefilm, mit Pferd in einem Wohnblock. An einigen Stellen verheddert sich der Wettbewerbsfilm aber in seinen zahllosen offenen Enden und findet nur schwer zurück in die Spur.

Und was kommt jetzt? Eine Geschichte über Tiere und ein filmisches Langzeitprojekt.