Berlinale 2014 – Kein Land für junge Männer
Jack und Manuel allein zu Haus, durch die Wüste mit Forest Whitaker und ein Mann rennt in Belfast um sein Leben. Die Berlinale präsentiert am Tag nach der offiziellen Eröffnung Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs. Manche sind schon einen Schritt weiter.
Was bisher geschah: Das Festival ist eröffnet, Herrn Waltz schmeckt’s nicht und Ralph Fiennes im Grand Hotel hinter den Bergen.
Die Berlinale meint es selten gut mit den Männern. Einsam, verlassen, gewalttätig, desorientiert, beziehungsgestört und alkoholisiert taumeln sie über die Leinwände der Festivalkinos. Wie im richtigen Leben, mag die Eine oder der Andere an dieser Stelle seufzen. Manchmal meinen sie es gut, die Männer, tun aber trotzdem das Falsche. Und wer ist schuld? Die Mütter sind es und deren fehlende Liebe. So schließt sich dann sehr schnell der Kreis, und alle sind mühselig und beladen und auf Droge und restlos verloren in einer Welt voll Hass und Gewalt. Da kann nur noch Gott helfen. Dumm nur, wenn der gerade anderweitig beschäftigt ist.
Sommer in der Stadt
Der Kinotag beginnt mit einem von vier deutschen Beiträgen, die es 2014 in den Wettbewerb der Berlinale geschafft haben. „Jack“ von Edward Berger erzählt die Geschichte zweier Brüder in einem Sommer in Berlin. Der Ältere von den beiden, Jack, kümmert sich um seinen kleinen Bruder Manuel, den Haushalt, seine Mutter. Sanna, ein großes Kind umgeben von großen Kindern, die sich in Parks wie die jungen Hunde balgen und richtig toll finden, wie gut die Jungs alles alleine machen. Sie meinen es nicht böse, sie wollen einfach nur immer weiter spielen und Spaß haben und sich selbst der Nächste sein.
Nach einem Ausflug der Jungs verbrüht sich Manuel bei einem Bad seinen Körper. Die Familie gerät in den Fokus der Behörden. Jack muss die Familie verlassen und wird in einer Wohngruppe untergebracht. Manuel darf bei seiner Mutter bleiben. Im Streit mit einem sadistischen Mitbewohner verletzt Jack diesen schwer. In dieser scheinbar ausweglosen Situation beschließt Jack, nicht in die Wohngruppe zurückzukehren, sondern sich auf den Heimweg zu machen. Jack sammelt seinen Bruder bei einer Freundin von Sanna auf. Die Mutter ist dann mal weg.
Gemeinsam durchstreifen die Brüder eine Stadt ohne Kinder und treffen auf Erwachsene, die ihnen bestenfalls einmal freundlich durchs verfilzte Haar wuscheln. Eigenartig findet keiner, dass mitten in der Nacht zwei Jungs auftauchen und nach ihrer Mutter fragen. Abgefuckte Clubs, mit abgefuckten Leuten, dit is Berlin.
Ein gut gemeinter Film, der seinem ernsthaften kleinen Hauptdarsteller durch die Nacht folgt und die Welt nicht durch Kinderaugen sieht, wie er uns gerne glauben machen möchte. Getragen von der kühlen Oberflächlichkeit wohlmeinender Bildungsbürger hält uns das Werk entspannt auf Distanz zu zwei verlorenen Seelen. Dazu klimpern leise die Gitarren. Kopf hoch, wird schon wieder Jungs!
Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss
Kein guter Tag für ganz junge und mittelalte Männer. In „La voie de l’ennemi“ (Two Men in Town), einem Remake des französischen Filmdramas „Deux hommes dans la ville“ (Endstation Schafott) von José Giovanni aus dem Jahre 1973 mit Alain Delon und Jean Gabin, muss der große Schmerzensmann des amerikanischen Kinos, Forest Whitaker, dran glauben.
Nach 18 Jahren im Gefängnis wird William Garnett (Forest Whitaker) wegen guter Führung vorzeitig entlassen. Der Mann mit dem traurigsten Gesicht der Welt, das einen nur ganz selten mit einem angedeuteten Lächeln überrascht, ist im Gefängnis zum Islam konvertiert und wird in die Hände seiner Bewährungshelferin Emily Smith (Brenda Blethyn) übergeben. Mit resoluter Robustheit wird diese ihren Schützling so lange begleiten wie sie kann. Kann es Vergebung und eine zweite Chance für einen Polizistenmörder geben? Nicht in der Welt von Sheriff Bill Agati (Harvey Keitel), der seit mehr als zwei Jahrzehnten Herr über ein kleines texanisches Kaff ist, irgendwo in der Grenzregion zu Mexiko.
Das Glück der Freiheit währt nur kurz für Ex-Häftling Garnett. Sheriff Agati und seine Männer schikanieren ihn, seine ehemaligen Gang-Kumpels wollen ihn zurück und dabei möchte der Mann einfach nur ein kleines Leben, Job, Frau, Kinder, Haus und Hund. Und ewig weht der Wind über karges Land. Nichts Gutes verheißt die untergehende Sonne. Dazu Musik, wie knirschender Staub zwischen den Zähnen.
Zeit verliert in der Unendlichkeit der Staubwüste ihre Bedeutung, nicht so für den Zuschauer im Kinosaal. Regisseur Rachid Bouchareb zelebriert 120 Minuten das allmähliche Zerbrechen seines Protagonisten. Als der Peiniger bei Sonnenaufgang endlich gerichtet wird, ist auch für den Zuschauer das Ende der Wüste in Sicht. Da ist kein Gott mehr und keine Erlösung nirgends.
Run! Boy! Run!
Und dann kam „’71“, das Langfilm-Debut des in Paris geborenen und in London aufgewachsenen Regisseurs Yann Demage. Sound (Musik: David Holmes), Kamera (Anthony Radcliffe), Geschichte (Buch: Gregory Burke) und Darsteller entwickeln von der ersten Minute an einen beunruhigend pulsierenden Sog. Wie die in Zeitlupe verlangsamten Rotoren eines Hubschraubers wabern Klangrhythmus und Kamera von Szene zu Szene, mal beschleunigend, selten innehaltend. Atemlos durchleben wir eine Nacht auf der Flucht mit dem jungen britischen Rekruten Gary Hook (Jack O’Connell) in Belfast im Jahr 1971. Verwaschene Bilder, wie aus einem alten Fotoalbum.
Bei seinem ersten Einsatz im immer weiter eskalierenden Nordirlandkonflikt wird Hook gemeinsam mit einem Kameraden von seiner Einheit getrennt. Die Jagd auf die beiden jungen Soldaten ist eröffnet. Sein Freund stirbt, Hook entgeht nur knapp seinen Verfolgern. Fortan ist er auf sich alleine gestellt. In einer Stadt, die er nicht kennt. Orientierungslos, umringt von Feinden. Misstrauen und Paranoia, Verrat und Betrug – jeder kann der Nächste sein. Alle sind Täter und Opfer zugleich. Hooks Anspannung wird zu der des Zuschauers. Es wird Nacht in Belfast. Kann Hook sich zur Kaserne durchschlagen? Preiswürdig!
Und so geht’s weiter: Schiller und die Frauen, George und die Männer und Schnee, der auf einen einsamen Rächer fällt.
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