Berlinale 2013 – Mami hat dich lieb
Am fünften Tag der 63. Internationalen Filmfestspiele in Berlin muss der Wettbewerb leider ohne Bärenfalle auskommen. Dafür ist Schweigen Gold und Lügen lohnt sich wieder. Bleibt nur eine Frage: Was hat der alte Mann mit dem Schneewittchen vor?
Mutti ist die Beste
Die Waschlappigkeit der Männer, von der dieser Tage immer wieder so viel zu hören ist, muss Ursachen haben. Die gute Nachricht: Mutti ist an allem schuld! Im rumänischen Wettbewerbsbeitrag „Pozitia Copilului“ (Child’s Pose) von Calin Peter Netzer verursacht fortysomething Barbu während eines riskanten Überholmanövers einen tödlichen Autounfall. Ein Kind stirbt. Ein Fall für Mutter Cornelia. Erfolgreiche Architektin, goldbehängt, ordentlich blondiert, gewohnt die Fäden in der Hand zu halten und, wenn erforderlich, die richtigen Strippen zu ziehen. Man tut besser, was sie von einem erwartet. Folgerichtig hasst Cornelia die Freundin ihres Jungen und missbraucht die gemeinsame Putzfrau als Spitzel.
Nach dem Unfall übernehmen Mutter und Tante mit Urgewalt das Kommando. Die Polizei zeigt sich erst noch ein wenig sperrig, Kooperation soll aber ihr Schaden nicht sein. Cornelia lädt ihren Buben ins Auto, bringt ihn im heimischen Kinderzimmer ins Bett, Happypills und Entspannungsmassage inklusive. Aber Undank ist der Welten Lohn. Während bei der Polizei die Informationen nur so sprudeln, wirft Barbu seiner Mutter das falsche Nasenspray hinterher.
Zeit für ein klärendes Gespräch unter Frauen. Mutter und Lebensgefährtin verhandeln über den Delinquenten. Dieser willigt ein, die Familie des Opfers zu besuchen, allerdings unter der Bedingung, dass sich seine Mutter zukünftig von ihm fernhält. Er bittet sie darum, sich ein anderes Spielzeug zu suchen. Im Elternhaus des Opfers sind es zunächst wieder die Frauen in Barbus Leben, die, unter Tränen, um so etwas wie Vergebung für sich bitten. Nachdem alles erledigt scheint, fordert Barbu seine Mutter auf, die Kindersicherung im Auto für ihn zu öffnen, damit er das Fahrzeug doch noch verlassen kann. Was er dem Vater seines Opfers zu sagen hat, werden wir nicht erfahren.
In fast dokumentarischen Bildern begleiten wir Cornelia und Barbu in den Tagen nach diesem einschneidenden Ereignis. Die Last der Schuld und Verantwortung müssen getragen werden, ob er das Seine dazu beiträgt bleibt zumindest eine Möglichkeit.
Ein gutes Wort zur rechten Zeit …
Mit Beziehungen ist es so eine Sache: Die Einen sagen, Reden hilft, über alles, stundenlang, je mehr, desto besser, oder wenigstens bis Einer heult. Die Anderen ziehen zugewandtes Schweigen vor. 17 Jahre nach „Before Sunrise“ und neun Jahre nach „Before Sunset“ diskutieren Julie Delpy und Ethan Hawke in „Before Midnight“ von Richard Linklater, der im Wettbewerb der Berlinale außer Konkurrenz gezeigt wird, erneut über das Leben und die Liebe im Allgemeinen und über den Zustand ihrer Beziehung im Speziellen.
Im Anschluss an ihre letzte Begegnung in Paris sind die beiden zusammengeblieben. Nach der Verliebtheit ist mitten im Beziehungsdiskurs. Im gemeinsamen Griechenlandurlaub mit ihren beiden Töchtern möchte das Paar einen romantischen Abend alleine verbringen. Karriereplanung, sexuelle Vorlieben, die Rechte der Frauen, Seitensprünge – die beiden schonen sich nicht. Es ist wunderbar, den Beiden beim Streiten zuzusehen. Aber, obacht Kinder: Bitte nicht nachmachen! Und: Silence is golden.
Du sollst nicht lügen
Ein kurzer Moment der Unachtsamkeit genügt, um das Leben von Layla Fourie, im gleichnamigen Wettbewerbsbeitrag von Pia Marais, völlig aus den Fugen geraten zu lassen. Die alleinerziehende Mutter eines kleinen Sohnes hat gerade ihre neue Stelle als Polygraphistin bei einer Sicherheitsfirma in Johannesburg angetreten, als sie einen schweren Unfall verursacht. Die Frau, die potentielle neue Mitarbeiter eines Casinos am Lügendetektor testen soll, fährt das schwer verletzte Opfer nach einigem Zögern zu einem Krankenhaus. Doch Gerrit verstirbt noch auf der Rückbank. Auf der Polizeiwache verlässt sie der Mut, und sie transportiert den Leichnam auf eine Müllkippe. Die beklemmende Anspannung der Mutter, die sich und ihr Kind schützen will, steigert die Filmemacherin gekonnt.
Wie der Zufall es will, lernt Layla bei einem der Jobinterviews im Casino Eugene Pienaar, Gerrits Sohn, kennen. Durch noch mehr Zufall wird sie Gast im Haus von dessen Frau Constanza, Eugenes Stiefmutter. Immer komplexer wird das Geflecht aus Lügen, indem sich Layla und ihr Sohn Kane verstricken. Als Eugene Kane mit dem Handy seines Vaters erwischt, beginnt er zu ahnen, dass Layla mehr über das Verschwinden seines Vaters weiß, als sie zugibt. So wie Layla ihr Leben nach und nach entgleitet, verliert Filmemacherin und Drehbuchautorin Marais die Handlung ihres Films und die Geschichte ihrer Figuren aus dem Blick. August Diehl bleibt in der Rolle des Eugene blass. Seine Motivation und die seiner Stiefmutter bleiben vage. Irgendwie gilt ihr Interesse dem Verstorbenen, eigentlich aber doch sich und Eugene hat ein Auge auf Layla geworfen. Die politische Situation im heutigen Südafrika klingt an und verliert sich dann. Der zunächst stimmige Spannungsbogen wird mit Fortschreiten der Geschichte, die insgesamt auch zu lang geraten ist, immer fahriger. Am Ende ist kein roter Faden mehr erkennbar. Schade!
Sweet Dreams Are Made Of This
Es war einmal ein alter eitler Mann, der lebte einsam und allein mit den Portraits vieler wunderschöner Frauen in einem großen Haus. Eines Tages erhält er, der erfolgsverwöhnte Kunstkenner, Schöngeist und Auktionator den Anruf einer mysteriösen Frau, die keiner je gesehen hat. Der Mann (Geoffrey Rush), ungeübt im Umgang mit Menschen und ein Novize in der Frauenliebe, ist immer auf der Suche nach „The Best Offer“. Aber in diesem Film von Giuseppe Tornatore, der in der Reihe Berlinale Special gezeigt wird, nimmt eine Geschichte ihren Lauf, die für den passionierten Handschuhträger nicht gut ausgehen wird. An dem wunderbar distinguierten Geoffrey Rush liegt es sicher nicht, dass die Geschichte fragwürdig bleibt. Dieser Darsteller würde auch einem inszenierten Telefonbuch Würde verleihen.
Es ist die alte Mär vom Schneewittchen, das hinter dicken Mauern gefangen gehalten wird und auf den edlen und doch auch ein wenig hormonell getriebenen Ritter wartet (und wer wollte es ihm bei dieser zarten Haut, dem wundervollen langen Haar und den kleinen knospenden Brüsten verdenken), der es in seinen starken Armen in die Freiheit trägt. Leider hat der alte Geck einen jungen stürmischen Konkurrenten. Wird etwa der schmucke Prinz unser Schneewittchen zuerst erreichen? Und welche Rolle spielt der weißhaarige Zausel in dieser Scharade? Am Ende steht er da, der alte Tor, und ist noch dümmer als zuvor.
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