Gehst du zum Kinde, vergiss die Peitsche nicht

Ihr macht gerade eine schwere Zeit durch, das Leben meint es nicht gut mit Euch, ihr werdet alt, emotional instabil und lasst das gerne an euren Mitmenschen aus? Kinder in der Nähe, die Ihr schikanieren könnt und die Hand ist Euch auch schon einmal ausgerutscht? Kein Grund traurig zu sein und mit Selbstvorwürfen in diesen Tag zu starten! Es ist an der Zeit, aus Euren Defiziten eine Tugend zu machen! Schreibt einen Erziehungsratgeber (Arbeitstitel: „Was uns früher nicht geschadet hat“). Die Welt ist reif für die Werke seelisch Pflegebedürftiger!

Kindererziehung zum Beispiel. Gräben ziehen sich durch die Nation und darüber hinaus. Was mag für die gesunde Entwicklung kleiner Menschen das Beste sein? Powerpoint und Mandarin im Kindergarten oder das Lasieren von Wänden mittels Nudeln mit Tomatensoße. Muss man mit einem Dreijährigen Sartre diskutieren oder ist ein Kind aller Karrierechancen beraubt, wenn es in diesem Alter nur seine Schuhe alleine anziehen kann und Kopffüßer malt? Die Wahrscheinlichkeit hier Fehler zu machen ist groß, warum aus der Not keine Tugend und die eigenen Fehlleistungen zum Programm machen?

Wer sich bislang geschämt hat, weil er in einem schwachen Moment seinem Kind mit der Verbrennung aller Stofftiere gedroht hat, jetzt darf es endlich laut ausgesprochen werden. Euch ist Gott erschienen und hat in den Block diktiert, wie eine gute Mutter zu sein hat? Hinaus damit in die Welt. Wen es Euch nicht an Heim und Herd zieht: Kein Problem! Denkt groß! Rettet eine ganze Nation. Ein kleiner Mann hat es schon versucht und ein Buch über das Rekapitulieren und Rezitieren deutscher Lyrik auf die Welt gebracht. Warum auch nicht – Gotthilf Fischer versucht seit Jahrzehnten eine Nation zum Singen zu bringen.

Sollten Eure Erziehungsexperimente bei der einen oder anderen schwachen Kreatur zu kleineren Ausfallerscheinungen führen, macht Euch keine Vorwürfe! Ein bisschen Schwund ist immer und wofür gibt es studiertes Fachpersonal und die Pharmaindustrie.

Disziplin, Kontrolle, Einschüchterung und rationalisierter Sadismus als oberste Erziehungsprinzipien – nicht alles, was es auf Papier geschafft hat, muss heute tatsächlich auch noch gelesen werden, die Zeiten sind danach und außerdem war früher sowieso alles besser:

Und herein in schnellem Lauf

Springt der Schneider in die Stub

Zu dem Daumen-Lutscher-Bub.

Weh! Jetzt geht es klipp und klapp

Mit der Scher die Daumen ab,

Mit der großen scharfen Scher!

Hei! Da schreit der Konrad sehr.

Als die Mutter kommt nach Haus,

Sieht der Konrad traurig aus.

Ohne Daumen steht er dort.

Die sind alle beide fort.

Heinrich Hoffmann, Der Struwwelpeter – Die Geschichte vom Daumenlutscher