DOK Leipzig 2012 – Mit Gottes Hilfe nicht nur sauber, sondern rein
Das 55. DOK Leipzig zeigt vom 29. Oktober bis 4. November rund 360 Werke aus den Bereichen Dokumentar- und Animationsfilm – ein Beitrag über vier Festival-Filme mit den Schwerpunkten: Geschlechtsverkehr und Keuschheitsbälle, Genie und Wahnsinn, eine Art Freundschaft und den Wert des Lebens jenseits eines Marktwertes.
Eltern möchten nicht, dass ihre Kinder aktiv Geschlechtsverkehr ausüben (den Kindern gefällt nur die Vorstellung in Bezug auf ihre Eltern nicht). Insbesondere Töchtern sollte diese Form körperlicher Betätigung bis zum vollendeten 40. Lebensjahr untersagt werden. Mindestens. Das ist so dumm wie menschlich. Bei ernsthafter Kopulationsabsicht mag der Hinweis auf Teenagerschwangerschaften, Chlamydien, eitrigen Ausfluss, Genitalwarzen, Filzläuse und Herpes für einen Aufschub von ca. 5-7 Tagen sorgen, insbesondere wenn man mit farbigen Bildern arbeitet, mehr aber auch nicht. Gut, wer dann Gott an seiner Seite weiß!
… und verschone uns vor den wahrhaft Frommen
Der Herr im Himmel im Allgemeinen und Männer im Besonderen haben schon immer gewusst, wie das Wort Gottes auszulegen sei, und noch mehr, was das Beste für Frauen ist. Auch und gerade wenn es um die Vermeidung von Hausarbeit und Triebsteuerung geht. Warum sich selber mäßigen, wenn man das Objekt der Begierde nach seinem Willen formen kann.
In Mirjam von Arx „Virgin Tales“, der im internationalen Programm des Festivals gezeigt wird, lernen wir eine evangelikale Großfamilie aus Colorado Springs kennen. Der Vater, ein in Würde gealterter Prediger-Posterboy mit gehobenem Einkommen und die Mutter, Hausfrau und Hauslehrerin ohne Algebra-Kenntnisse, wollen für ihre zwei Söhne und fünf Töchter nur das Beste, und das ist vor allem Jungfräulichkeit bis in die von Gott gestiftete Ehe. Die Zeit bis dahin vertreiben sich die Mädchen mit Reinheitstreffen, dem Erlernen hauswirtschaftlicher Fähigkeiten und den Vorbereitungen für den alljährlichen Vater- Tochter-Reinheitsball. Da werden Keuschheitstruhen gezimmert und fromme Lieder gesungen und die kieferorthopädisch meisterlich ausgerichteten Zähne strahlend in die Kamera gehalten.
Die Hybris von Menschen mit aufrechter Mission mutet tragisch, komisch und verstörend an. Alle Eltern wünschen ihren Kindern nur das Beste, glückliche Beziehungen und allzeit eine warme Suppe, nun wird die Liste um lebenslange Fernsteuerung erweitert. Die Allmachtsphantasien auf Erden übersteigen die Möglichkeiten des Herrn im Himmel bei weitem. Gott sieht alles, der Mensch sieht mehr. Dass eine teure Ausbildung für Mädchen nicht sinnvoll scheint, ist da nur ein weiterer funkelnder Mosaikstein im Gesamtbild.
Mirjam von Arx bleibt an der wahnsinnig wahrhaftigen glatten Oberfläche, ob sie nicht tiefer bohren konnte oder wollte, bleibt unklar. Ein Film für alle und ganz besonders für Familienväter und Mütter, die noch kreative Lösungen für Aufzucht und Hege des eigenen Nachwuchses suchen. Mögen unsere Töchter stark und frei im Leben und in der Liebe sein!
„Virgin Tales“ von Mirjam von Arx läuft noch einmal am Freitag, 02.11.2012, um 20 Uhr in der Cinémathèque Leipzig (naTo).
120 Minuten für ein ganzes Leben
Auf eine Spurensuche der ganz anderen Art begibt sich Gerd Kroske in “Heino Jaeger – Look Before You Kuck”, der im deutschen Wettbewerb des Festivals gezeigt wird. Heino Jaeger war ein Maler, Grafiker, manisch Zeichnender, Satririker, Provokateur, Trinker, von allen Sinnen verlassener, gescheiterter Geniestreich der menschlichen Spezies. Die wenigen erhaltenen Tonbandaufnahmen seiner Hörfunkreihe „Fragen Sie Dr. Jaeger“ lassen ahnen, dass „Dittsche“ in ihm seinen Meister gefunden hat.
Kroske spricht mit langjährigen Freunden, Weggefährten und Bewunderern, die Jaeger in ihren Erzählungen, mit Bildern und Tonaufnahmen umkreisen. Immer wieder wird die militarisierte Gesellschaft in Texten, Zeichnungen und großen Gemälden gezeigt. Jaeger arbeitet sich am Dritten Reich ab, an den Kriegserlebnissen seiner Kindheit, am Irrsinn der Verhältnisse. Er begibt sich hinein und stellt sie bloß.
120 Minuten Film muten lang an, für ein ganzes Leben sind sie noch zu wenig. Am Ende bleibt uns Jaeger genau so fern wie er sich selbst. Ob man genau so viele unermüdlich erzählende, Lebensspuren sammelnde Menschen für ein Zeugnis über das eigene Leben auftreiben könnte? Jaeger starb im Juli 1997 in einer psychiatrischen Anstalt.
„Heino Jaeger – Look Before You Kuck“ von Gerd Kroske läuft noch einmal am Mittwoch, 31.10.2012, um 17 Uhr in der Schaubühne Lindenfels und am Freitag, 02.11.2012, um 20 Uhr in den Passage Kinos.
Der Kapitän verlässt die Brücke
Am 4. April 2009 wird das deutsche Containerschiff Hansa Stavanger rund 400 Seemeilen vor der Küste Somalias von Piraten gekapert. Die Geiselnahme dauert vier Monate. Nach einer Zahlung von 2,75 Millionen $ durch die Hamburger Reederei Leonhardt & Blumberg kommen Schiff und Mannschaft frei. In den Monaten danach häufen sich Vorwürfe gegen den Kapitän Krzysztof Kotiuk, er habe sich in den Wochen der Gefangenschaft im Umgang mit den Piraten falsch verhalten und ihnen taktisch in die Hände gespielt.
Eine Chronologie der damaligen Ereignisse aus Sicht der Medien ist u.a. bei den Kollegen von Spiegel Online, Stern und auf Wikipedia nachzulesen.
Filmemacher Andy Wolff ist das scheinbar Unmögliche gelungen, er hat den Anführer der Piraten in Somalia aufgespürt und zu einer Teilnahme an dem Filmprojekt bewegen können. In „Der Kapitän und sein Pirat“ begleitet der junge Dokumentarfilmer den traumatisierten Kapitän der Hansa Stavanger, Krzysztof Kotiuk, durch den schmerzhaften Prozess der Therapie und spricht in seiner Heimat Somalia mit dem Piraten.
Wir bewegen uns mit Ahado durch ein zerstörtes Land. Der ewig Kat kauende Anführer hat nichts zu verlieren. Die Monate auf dem Schiff sind für ihn und seine Männer sicherer, als das Leben auf den Straßen Mogadischus. Hilferufe der Crew an die deutsche Reederei bleiben über Wochen unbeantwortet. Es beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Reederei in Hamburg, den Piraten und der deutschen Bundesregierung. Das Schiff wird von Bundeswehrverbänden angegriffen. Der Befreiungsversuch scheitert.
Ziel der Piraten ist es, die Mitglieder der Schiffscrew zu entzweien. Wiederholt werden insbesondere die deutschen Mitglieder der Mannschaft zu Scheinhinrichtungen geführt. Die Versorgungslage an Bord und die hygienischen Zustände verschärfen sich mit jedem Tag der Geiselhaft. Die Autorität des Kapitäns wird in Zweifel gezogen. Die Hierarchien an Bord lösen sich auf. Der Kapitän wird isoliert. Teile der Mannschaft wenden sich von ihm ab und werfen ihm bis heute vor, mit den Piraten, insbesondere mit Ahado fraternisiert zu haben. Der Anführer der Piraten wird sein einziger Freund an Bord und ist noch heute voll der Achtung und des Respekts für den alten Mann auf See.
Nach der Veröffentlichung eines dramatischen Briefes an die Bundeskanzlerin Angela Merkel durch die Medien, kommt Bewegung in die festgefahrenen Verhandlungen, und die Reederei wirft das geforderte Lösegeld ab.
Der Film beleuchtet eine weitere Facette der Geschehnisse auf See. Er gibt beiden Protagonisten Raum für ihre Sicht auf die Ereignisse im Sommer 2009 und vor allem gibt er Kapitän Krzysztof Kotiuk Würde zurück, gerade weil er den schonungslosen Blick auf den langsamen Genesungsprozess zulässt. Eine Geschichte über Männer, die würdevoll Zeugnis von ihrer Niederlage ablegen und damit Achtung gewinnen.
Direkt nach seiner Rückkehr nach Deutschland erhält Kotiuk seine Kündigung. Der Kapitän bleibt an Land.
„Der Kapitän und sein Pirat“ von Andy Wolff läuft noch einmal am Donnerstag, 01.11.2012, um 10 Uhr im CineStar.
Multiple Vermittlungshemmnisse für marktferne Menschen
Ihr, die ihr alle nicht Leistungssportler, Neurochirurgen, Filmstars oder Aufsichtsratsvorsitzende seid – welchen Marktwert hat euer Leben? Was leistet ihr für die Gesellschaft, und lässt sich das monetarisieren? Und wenn nicht, seid ihr anderweitig nützlich oder liegt wenigstens niemandem auf der Tasche? „Der große Irrtum“ von Dirk Heth und Olaf Winkler, ein Beitrag im internationalen Programm des Festivals, nominiert für den Filmpreis „Leipziger Ring“ und den Healthy Workplaces Film Award, ist der warmherzige menschenfreundliche Film zu Fragen des bürgerschaftlichen Engagements jenseits eines ersten Arbeitsmarktes. Was tun, wenn der Markt uns nicht mehr braucht? Der Gang ins Kino, um sich einen Film beim DOK Leipzig anzusehen, ist ein Schritt in die richtige Richtung.
„Der große Irrtum“ von Dirk Heth und Olaf Winkler läuft noch einmal am Donnerstag, 01.11.2012, um 17 Uhr in der Schaubühne Lindenfels und am Samstag, 03.11.2012, um 11 Uhr in den Passage Kinos.
Alle Informationen zum Programm, den beteiligten Kinos, Tickets, Highlights und Empfehlungen gibt’s unter dok-leipzig.de