Berlinale 2020 – Wir sind alle Tiere
Eine Erotik-Mysterie-Telenovela aus Argentinien, das Porträt einer gepeinigten Seele und ein braver Eröffnungsfilm aus einer der Promi-Nebenreihen des Festivals – die Berlinale 2020 ist eröffnet.
Wer seid ihr – und wenn ja, wie viele?
Synchronsprecherin und Chorsängerin Inés fliegt mit ihrem haarigen Lover in den Urlaub. Sein Liebeswahn wird von der selbstbewussten jungen Frau nicht erwidert. Der eitle Geck kann die Zurückweisung nicht auf sich sitzen lassen – schwer traumatisiert kehrt Inés von der Reise zurück. Schlaflosigkeit, Halluzinationen und Albträume erschweren ihr zunehmend den Alltag. Ihr Körper erzeugt Geräusche, die ihre Arbeit im Tonstudio und auf der Bühne nahezu unmöglich machen. Was auch immer da von Inés Besitz ergriffen hat, es ist gekommen, um zu bleiben. Da helfen weder Pillen noch Geisteraustreibung.
Der Wettbewerb der 70. Internationalen Filmfestspiele in Berlin beginnt 2020 am zweiten Festivaltag mit „El prófugo“ (The Intruder / Der Eindringling) von Natalia Meta. Die argentinische Filmemacherin zieht ihre Protagonistin immer mehr in eine Zwischenwelt. Wachen, schlafen, träumen werden immer eins. Was kriecht da unter dem dünnen Laken zwischen ihren Beinen? Wer stöckelt da nachts übers Parkett? Wem ist noch zu trauen? Warum den Wahnsinn nicht willkommen heißen und gemeinsam mit ihm die Nacht verbringen? Hauptsache am Ende darf gesungen und getanzt werden.
Mensch werden ist eine Kunst
Wenig ist bekannt aus der düsteren und von Gewalt geprägten Kindheit und Jugend des schweizerisch-italienischen Künstlers Antonio Ligabue. Geboren in Zürich, aufgewachsen bei einer Pflegefamilie auf einem Bergbauernhof, wird er als junger Mann, nach zahllosen Aufenthalten in Erziehungsheimen und Irrenanstalten, nach Italien ausgewiesen. Filmemacher Giorgio Diritti begibt sich in “Volevo Nascondermi” (Hidden Away) auf die Suche nach den Lebensspuren einer gepeinigten Seele, die letztlich über die Kunst ein wenig Befreiung, Frieden und Anerkennung finden kann.
Kameramann Matteo Cocco findet für dieses brutale und auszehrende Leben Bilder malerischer Schönheit. Von aller Welt verlassen und vollkommen verarmt kriecht Ligabue durch den Dreck, frisst den Vögeln die Eier aus den Nestern. Verstoßen, verlacht und erniedrigt wird er weder als Teil der menschlichen Gemeinschaft geduldet noch sein Leben in Einsamkeit toleriert. Über die Malerei findet er einen Ausdruck für seine Welt und eine kleine Gruppe von Gönnern, die ihn in ihrer Mitte aufnehmen und versuchen, mit ihm zu leben.
Die Wandlung des 39-jährigen Schauspielers Elio Germano in den vom Leben gezeichneten und vor der Zeit gealterten Tonio ist ein darstellerischer Kraftakt. Immer wieder schlägt sich Antonio mit großen Steinen auf die Schläfe, um die bösen Gedanken zu vertreiben. Germano spielt sich damit sehr früh im Wettbewerb auf eine sehr aussichtsreiche Bärenposition.
… und wie war eigentlich der Eröffnungsfilm?
Die kleine Emanzipationsgeschichte „My Salinger Year“ über die ätherische Joanna, die im Herbst 1995 auszog, um Schriftstellerin zu werden und in einer New Yorker Literaturagentur landet, plätschert betulich dahin. Das blütenbestickte Blüschen sitzt, das Haar des Sozialisten-Freundes ist angemessen lang. Verschrobene Literaten, total verrückte Fans und der erste PC im Büro sorgen für bildungsbürgerliche Aufregung. Sigourney Weaver hat die eisgrauen Haare schön. Hinter ihrem altmodischen Führungsstil verbirgt sie ein großes Herz, das fordert und fördert.
Der Eröffnungsfilm der 70. Internationalen Filmfestspiele von Philippe Falardeau läuft in der Glamour-Sektion „Berlinale Special Gala“. Gepflegte Langeweile für die verregnete Matinée am Sonntagmittag. Sekt geht auf’s Haus.
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