Berlinale 2020 – “Wenn du leben willst, denk an den Tod”
Der Mensch braucht den Teufel nicht, er produziert die Hölle selbst, in der er untergeht. Rithy Panh führt in dokumentarischen Bildern tief in den Schmerz und den Abgrund, den Krieg, Folter, Terror und Diktatur immer wieder reproduzieren. Jedes historische Ereignis bleibt in seinen unvorstellbaren Bildern und kaum zu ertragen Gräueltaten einzigartig und doch gleichen sich die Marter und Pein an Mensch und Natur.
Es ist der kollektive Schmerz, der sich in „Irradiés“ (Irradiated) nicht nur in den einzelnen einschreibt, sondern über Generationen weiter ausstrahlt. Ein Menschenleben reicht nicht, um diese Qual zu ertragen oder gar ungeschehen zu machen. Die Massenpsychose endet nicht, sie schreibt sich fort. Leichenberge, Versehrte, Ausgemergelte, Verhungerte, Entsellte – Bombardements die alles auslöschen – wir sitzen sicher in unseren roten Kinosessel und können die Bilder und Töne doch kaum ertragen. Die Dreiteilung der Leinwand und der Versuch eine künstlerisch inszenierte Antwort auf das unaussprechliche zu finden verschafft immer wieder kurzzeitig Erleichterung. Eine Antwort darauf, warum das Grauen kein Ende hat, kann der Film selbstverständlich nicht geben.
Vier Kapitel über das Leben und Sterben
Heshmat ist liebevoller Vater, treusorgender Ehemann und aufopferungsvoller Sohn. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Henker in einem Gefängnis im Iran. Pouya leistet seinen Wehrdienst in einer Vollstreckungseinheit . Seine Bemühungen, sich kurzfristig versetzen zu lassen, scheitern. Javad verschweigt seinen Dienst in der Vollstreckungseinheit. Am Geburtstag seiner Geliebten wird er mit den Konsequenzen seines Einsatzes konfrontiert. Bahram hat sich mit seinen Bienenstöcken in die Berge zurückgezogen. Der totkranke Arzt muss seiner Nichte aus Deutschland ein Geständnis machen.
Der iranische Filmemacher Mohammad Rasoulof lotet im Wettbewerbsbeitrag „Sheytan vojud nadarad“ (There Is No Evil | Es gibt kein Böses), die Fragen individueller Schuld, moralischer Verantwortung und die Freiheit des Einzelnen in einem totalitären Regime aus. Mit jedem neuen Kapitel werden persönliche Verstrickung und die Konsequenzen des Handels sichtbarer. Einem Bären für diesen zutiefst humanistischen Appell die Menschlichkeit wird sich die Jury nicht verweigern können.
Wieder einmal wird der Platz eines iranischen Regisseur auf der Berlinale leer bleiben. Mohammad Rasoulof darf seine Heimat Iran nicht verlassen. 2019 wurde der Regisseur, zusätzlich zum Reiseverbot, zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt, die er bisher aber nicht antreten musste. Gemeinsam mit Jafar Panahi (Goldener Bär für „Taxi Teheran“) war er bereits 2010 zu sechs Jahren Haft verurteilt worden – die Strafe wurde ebenfalls nicht vollzogen.
Jetzt hat die Jury das Wort – am Samstag werden die Bären für die besten Filme, Darsteller und weitere künstlerische Leistungen vergeben. Wie immer ist mit Überraschungen zu rechnen. Die starken Darstellerleistungen von Lars Eidinger als sterbender König in “Schwesterlein”, Elio Germano in “Volevo nascondermi” und “Favolacce”, Albrecht Schuch als teuflischer Verführer Reinhold in “Berlin Alexanderplatz” und Sidney Flanigan als ungewollt Schwangere in “Never Rarely Sometimes Always“ hätte aber sicher Auszeichnungen verdient.
“Sheytan vojud nadarad” von Mohammad Rasoulof, “Irradiés” von Rithy Panh, die bildgewaltige Neuverfilmung “Berlin Alexanderplatz” von Burhan Qurbani, die grausame Kindergeschichte “Favolacce” von Fabio & Damiano D’Innocenzo, das amerikanische Abtreibungsdrama “Never Rarely Sometimes Always” von Eliza Hittman, die französische Anarcho-Komödie “Effacer l’historique” von Benoît Delépine & Gustave Kervern und “Schwesterlein” von Stéphanie Chuat & Véronique Reymond dürfen sich in einer der zahlreichen Kategorien Hoffnung auf eine Auszeichnung machen.
Alle Filme des Berlinale Wettbewerbs gibt’s HIER zum nachlesen.