Berlinale 2017 – Vor dem Hurricane kommt der Sturm

Als nachts im Hafen von Helsinki die Kräne stillstehen, entsteigt Khaled Ali dem Laderaum eines Kohlefrachters. Zeitgleich beendet Waldemar Wikström schweigend seine Ehe. Der Vertreter für Oberhemden und Krawatten löst sein Warenlager auf, um in die Gastronomie einzusteigen. Herzlich willkommen in Aki Kaurismäkis 35mm–Kosmos von „Toivon tuolla puolen“ (The Other Side of Hope | Die andere Seite der Hoffnung). Visuell befinden wir uns in den 70er Jahren, politisch sind wir vollkommen in der Gegenwart angekommen.

#theothersideofhope #kaurismäki

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Khaled aus Syrien beantragt Asyl in Finnland. Waldemar, der Mann ohne Mimik, vermehrt sein Startkapital beim Pokerspiel. Khaled bezieht ein Bett in der Flüchtlingsunterkunft, Waldemar lernt seine Angestellten im “Goldenen Krug” kennen. Sparsam sind Ausstattung und Speisekarte. Liebevoll und ohne Hohn ist Kaurismäkis Blick auf diese Gruppe von Außenseitern. Karg ist ihr Umfeld, umso größer ihr Herz.

Nachdem Khaled das Aufenthaltsrecht verweigert wird, taucht er in Helsinki unter und landet auf Umwegen bei Wikström, dessen Garderobenmann, dem rauchenden Koch, Hund und Kellnerin. Waldemar gibt ihm einen Job und eine Unterkunft. Kann diese Schicksalsgemeinschaft gegen Behörden und rechte Schlägergruppen bestehen? Kaurismäki, bekannt für seine kurzen trockenen Dialoge, kantigen Charaktere voller Herzenswärme und einen ganz eigenen Humor, richtet seinen Blick auf Not und Vertreibung. Nicht Reden, Handeln ist das Motto von Wikström und seinen Gefährten. Es sollte mehr von ihnen geben.

Jeder kann Künstler sein – alles kann Kunst sein

Umstritten, angefeindet, ein Weltstar – Andres Veiel (Wer wenn nicht wir) bringt mit seiner Dokumentation “Beuys”, den Mann mit dem Hut in den Internationalen Wettbewerb der Berlinale. Fett, Filz, 7000 Eichen und Zwiesprache mit einem toten Hasen – Joseph Beuys gilt weltweit als einer der bedeutendsten Aktionskünstler des 20. Jahrhunderts.

Sprunghaft und assoziativ bewegen wir uns durch das künstlerische Schaffen und die Entwicklung eines ganz neuen sozialen Kunstbegriffs. Alle müssen partizipieren, alle haben Anteil an der Kunst. Beuys provoziert das politische Establishment, indem er hunderte Studenten in seine Kurse an der Kunstakademie aufnimmt. Während er in der BRD angefeindet wird, erhält er als erster deutscher Künstler eine Einzelausstellung im Guggenheim Museum in New York.

Im @Berlinale #Wettbewerb läuft heute Abend BEUYS als #Weltpremiere . Andreas Veiel präsentiert seinen neuen #Dokumentarfilm BEUYS über einen der berühmtesten deutschen Künstler im Wettbewerb. Der Mann mit dem Hut, dem Filz und der Fettecke. 30 Jahre nach seinem Tod erscheint er als Visionär, der seiner Zeit voraus war. Geduldig versuchte er schon damals zu erklären, dass „Geld keine Ware sein darf“. Er wusste, dass der Geldhandel die Demokratie unterwandern würde. Doch mehr als das. Beuys boxt, parliert, doziert und erklärt dem toten Hasen die Kunst. Wollen Sie eine Revolution ohne Lachen machen? fragt er grinsend. Sein erweiterter Kunstbegriff führte ihn mitten in den Kern auch heute relevanter gesellschaftlicher Debatten. Regisseur Andres Veiel und sein Team stellten mit BEUYS eine Collage aus zum Teil bisher unerschlossener Bild- und Tondokumenten zusammen. . #Berlinale #Competition #Berlinale2017 #BerlinaleMoments #Beuys #zeroone #terz #Documentary #premiere #worldpremiere #BerlinalePalast #Kunst #Art #Düsseldorf

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Veiel verweigert eine einfache chronologische Ordnung des dokumentarischen Materials. Zeitzeugen kommen nur in sehr reduzierter Form zu Wort. Das Archiv-Material spricht für sich selbst. Der Filmemacher fordert die Zuschauer mit seiner collagenhaften Anordnung von Bildern, Tondokumenten und Filmmaterial heraus. Welche Fragen und Impulse hätte der Mitbegründer der Grünen an eine Zeit, die mehr denn je aus Idiotie, Hass und Gewalt besteht? Welche Herausforderungen und Zumutungen würde Beuys gegenwärtig entwickeln, um sich und uns zu verschleißen?

Unter Frauen

Claire (Catherine Frot) arbeitet als Hebamme in einem kleinen Krankenhaus. Aus Kostengründen soll die Station geschlossen werden. Den Wechsel an eine große Klinik kann sich die 49-Jährige nicht vorstellen. Ihr erwachsener Sohn Simon, den sie alleine großgezogen hat, ist dabei auszuziehen. Nach einer fordernden Nachtschicht findet sie eine Nachricht der ehemaligen Geliebten ihres Vater auf dem Anrufbeantworter. Béatrice (Catherine Deneuve) will nach 35 Jahren wieder mit ihr Kontakt aufnehmen.

Die exzentrische, aufgedunsene, vulgäre Béatrice hat dem ehemaligen Weltklasse-Schwimmer seinerzeit das Herz gebrochen. Jetzt ist sie alt, einsam und hat einen Hirntumor. Béatrice spielt, trinkt, raucht, isst rotes Fleisch – Claire nicht. Ein leicht verhärmter Zug um den Mund kündet von zurückhaltender Lebensfreude. Ihr großes Herz und ihre soziale Ader lassen trotz der schmerzlichen Erinnerung an den Vater aber nicht zu, dass sie Béatrice im Stich lässt.

In „Sage femme“ (The Midwife | Ein Kuss von Béatrice) setzt Martin Provost (Juliette und ihr Bauch) ganz auf seine beiden französischen Superstars Catherine Frot und Catherine Deneuve. Mit der lebenslustigen Béatrice halten Chaos und die Liebe Einzug in Claires eingefahrenen Alltag – so schlicht und unterhaltsam. “Sage femme” läuft im Internationalen Wettbewerb der Berlinale außer Konkurrenz.