Berlinale 2020 – „Wenn man Leute trifft, muss man überflüssig viel reden“
Eine kurze Meditation über das Reden und Schweigen, der Rattenfänger aus der Vorstadt und wie oft sind Frauen sexuellen Übergriffen und sexualisierter Gewalt ausgesetzt: niemals, selten, manchmal, immer? Der Wettbewerbs-Dienstag der 70. Internationalen Filmfestspiele in Berlin.
Der Berg, das Haus, der Apfel
Treffen sich drei Frauen und sprechen über Fleisch, Katzen und Beziehungen. Zwei Frauen sprechen über Mode und ihr schlechtes Gedächtnis. Zwei ehemalige Freundinnen treffen sich zufällig und sprechen über den Mann, der sie entzweit hat. Es wird gegessen, getrunken und ein Film geschaut. Hong Sangsoo variiert in „Domangchin yeoja“ (The Woman Who Ran | Die Frau, die rannte) ein Thema in drei unterschiedlichen Begegnungen. Immer dabei, die junge Gamhee.
Gamhee, die erstmals in ihrer fünfjährigen Ehe einige Tage ohne ihren Gatten verbringt, nutzt die Zeit, um in den Vororten von Seoul alte Bekannte zu treffen. Es sind die Leerstellen in den Gesprächen, die nachhallen. Sprache alleine reicht nicht, um Beziehung herzustellen. Hong Sangsoo lässt sich Zeit und benötigt zur Entfaltung seines philosophischen Mikrokosmos doch nur 77 Minuten. Der Rest ist Schweigen, das Rauschen des Meeres und der Blick auf die See.
Die Geschichte eines Sommers
Das Tagebuch eines kleinen Mädchens, verfasst in grüner Tinte, hat der Erzähler von “Favolacce” (Bad Tales) im Altpapier entdeckt. Eigentlich wollte er, dem nicht zu trauen ist, es gar nicht lesen – jetzt führt er die Geschichte eines Sommers für uns fort.
Eine Siedlung irgendwo am Rande Roms. Die Eltern sitzen frustriert in den Vorgärten ihrer spießigen Reihenhäuser. Neidisch wird der Plastik-Pool des Nachbarn zerstört. Abends wird gegrillt und die Kinder tragen die Noten ihrer Schulzeugnisse vor. Öde 98 Filmminuten nehmen scheinbar ihren Lauf.
Eingelullt in die Trägheit und das gelbverwaschene Licht eines Sommers, angewidert vom Machismo der Väter (Elio Germano beweist hier erneut seine Wandlungsfähigkeit und sein schauspielerisches Ausnahmetalent), wartet man gelangweilt auf das Ende dieser kleinen Geschichte. Scheinbar ziellos bewegt sich das Ensemble wunderbarer Kinderdarsteller durch den italienischen Wettbewerbsfilm von Fabio & Damiano D’Innocenzo.
Hoch steht das von der Sonne verbrannte Gras. Die Hormone von Alt und Jung spielen verrückt. Klebrige Verheißung liegt in der Luft, die Aussicht auf ein kleines Abenteuer. Dreckige kleine Männerphantasien sind in den Browserverläufen der Handys nachzulesen. Eltern sind nicht nur einfach Menschen, sondern eine bittere Enttäuschung – und da ist einer, der bereit ist, die Kinder aus der Vorstadt zu holen …
Niemals. Selten. Manchmal. Immer.
Die 17-jährige Autumn (Sidney Flanigan) lebt in einer Kleinstadt irgendwo in Pennsylvania. Die introvertierte junge Frau ist ungewollt schwanger. Gemeinsam mit ihrer Cousine Skylar (Talia Ryder) bricht sie auf nach New York, wo sie als Minderjährige legal eine Abtreibung ohne Einwilligung der Eltern vornehmen lassen kann. Dort angekommen muss sie feststellen, dass sie von der Ärztin in ihrer Heimatstadt nicht nur psychisch unter Druck gesetzt worden ist. Autumns Schwangerschaft ist bereits deutlich weiter fortgeschritten. Da New York über eines der progressivsten Abtreibungsgesetze verfügt, findet sie dort auch in der 18. Schwangerschaftswoche Hilfe. Die beiden jungen Frauen müssen sich zwei Nächte durchschlagen, bis der Eingriff endgültig durchgeführt werden kann.
Eliza Hittman verzichtet in ihrem Wettbewerbsbeitrag “Never Rarely Sometimes Always“ auf jede vordergründige Effekthascherei. Geschichte und Kamera verlassen sich ganz auf die fokussierte Präsenz ihrer Hauptdarstellerin Sidney Flanigan. Fast beiläufig werden die kleinen und großen sexuellen Übergriffe gezeigt, denen Mädchen und Frauen tagtäglich ausgesetzt sind. Nicht nur Autumn muss sich fragen lassen, wie oft ihr bereits Gewalt angetan wurde – niemals, selten, manchmal, immer? Nur die Frau selbst hat darüber zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft austragen will oder nicht. Keine sollte diesen Weg alleine gehen müssen. Filmemacherin Eliza Hittman zeigt in ihrem Film wie wichtig weibliche Solidarität in dieser Ausnahmesituation ist. “Never Rarely Sometimes Always” ist Ermutigung und Lehrfilm zugleich – für (junge) Frauen und Männer.
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