DOK Leipzig 2019 – Die Überlebenden
Nicht nur ihr Genmaterial geben Vater und Mutter an uns weiter, sondern auch die tief in Körper und Seele eingegrabene Familiengeschichte, wird von Generation zu Generation weitergetragen. Auch wenn wir uns schon lange von den Eltern gelöst haben, die Großeltern vielleicht nie kannten, sind wir doch Teil eines Vermächtnisses, das wir – im Guten und im Schlechten – an unsere Kinder und Kindeskinder weitergeben. Vor allem im Falle großer familiärer Traumata, wie sie die Überlebenden des Nazi-Terrors erleiden mussten, tragen die nachfolgenden Generationen schwer an dieser Last.
Die dänische Filmemacherin Susanne Kovács macht sich in „De skygger vi arver“ (It Takes a Family), der im Internationalen Wettbewerb des DOK Leipzig 2019 gezeigt wird, auf die Spurensuche in ihrer eigenen familiären Vergangenheit. Ihre Großeltern väterlicherseits, beide ungarische Juden, sind KZ-Überlebende. Viel mehr weiß Susanne Kovács nicht. Noch lebt die Großmutter, sprechen will sie nicht.
Es ist die mühsame und schmerzhafte Annäherung an das grausame Schicksal einer Frau, die als junges Mädchen die Nazi-Gräuel überlebt hat. Sie will sich nicht erinnern. So papierdünn, wie die Haut der alten Frau, so wenig ist das Trauma geheilt. Die Arbeit an dem Film reißt die Wunde auf, als wäre sie gerade erst geschlagen worden. Darf die Enkelin gegen den Widerstand der Großmutter weiter graben? Nicht nur Großmutter und Enkelin leiden, auch Susannes Vater nimmt die Herausforderung an und spricht über die Kindheit und Jugend mit dem grausamen Vater. Der Versuch, in Dänemark, nach der Auswanderung, heile Welt zu spielen und sich sofort anzupassen, scheint nach außen hin gelungen. Hinter verschlossenen Türen kämpft eine hochgradig dysfunktionale Familie mit und gegen sich selbst. Therapeutische Gespräche sind in der Nachkriegszeit kein Thema. Man will vergessen und Normalität simulieren.
Jeder muss das an ihm begangene Unrecht beklagen und den eigenen Schmerz betrauern dürfen, auch wenn neben dem, was die Großeltern erlebt haben, scheinbar alles andere verblassen muss. Aus der Wut und Trauer kann Versöhnung erwachsen. Das Leiden des anderen kann nachempfunden und beweint werden.
Wenn der Schmerz über das Unausgesprochene größer ist, als die Furcht vor den Antworten, dann kann Heilung geschehen. Es braucht einen, der die erste Frage stellt. Für ihre eigene Familie übernimmt das Susanne Kovács, ihr Film weist aber weit darüber hinaus. Das Risiko, das hier alle gemeinsam eingehen, ist Ermutigung für die vielen, die noch im Trauma verharren. Die Furchtlosigkeit von Susanne Kovács , ihrer inzwischen verstorbenen Großmutter, ihres Vaters und ihrer Mutter gemeinsam dieses Projekt zu wagen, wird vielleicht auch andere ermutigen, die Last, die seit Generationen stumm ertragen wird, endlich anzuschauen und zu besprechen, damit das Gewicht für all jene, die nachkommen, etwas leichter wird.
De skygger vi arver (It Takes a Family) von Susanne Kovács feiert im Internationalen Wettbewerb des DOK Leipzig 2019 seine Weltpremiere.
- DOK Leipzig 2019 – Sind so junge Menschen
- Berlinale 2020 – Wir sind alle Tiere