Berlinale 2013 – Jafar Panahi spielt sich selbst und Juliette Binoche weint

Der sechste Tag der 63. Internationalen Fimfestspiele in Berlin war ein Tag großer Erwartungen und noch größerer Enttäuschungen. Ein Beitrag über Klaustrophobie, Wahnsinn, Depression und die eine große Müdigkeit.

Es ist soweit – der Geist ist willig, aber das Fleisch will schlafen. Im Verlauf des Festivals kommt immer irgendwann der Moment größtmöglicher körperlicher Erschöpfung. Der Kopf presst sich tief in die Lehne des Kinosessels, und der Wunsch, die Augen, nur für einen ganz kurzen Moment zu schließen, ist übermächtig. In 98% der Fälle ist ein Film die Ursache dafür, dass alle Lebensenergie binnen Minuten aus einem heraussuppt. Und das kam so …

Who let the dog out?

„Pardé“ (Closed Curtain ) von Jafar Panahi und Kamboziya Partovi ist der unwahrscheinlichste Film des Festivals. Panahi, 2006  mit einem Silbernen Bären für seinen Film „Offside“ ausgezeichnet, wurde 2010 in seiner Heimat Iran zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt und mit einem 20-jährigen Berufsverbot belegt. Er darf keine Interviews geben und sein Heimatland nicht verlassen. Ihm wird vorgeworfen, sich anlässlich der umstrittenen Präsidentschaftswahlen im Jahr 2009 in der Oppositionsbewegung Grüne Bewegung engagiert zu haben.

Kamboziya Partovi in einer Szene von „Pardé (Closed Curtain)“ (Foto: dpa)

Jafar Panahi wurde 2011 anlässlich der 61. Berlinale in die Wettbewerbsjury berufen. Sein Platz blieb frei. In diesem Jahr setzt das Festival erneut ein Zeichen, dass es den Freiheitskampf des Regisseurs weiterhin unterstützt und zeigt „Pardé“ (Closed Curtain) im internationalen Wettbewerb. Die Erwartungen waren am Morgen entsprechend hoch.

Eröffnungssequenzen eines Films können die emotionale Gefasstheit, mit der man in einen Film geht, entscheidend beeinflussen. Musik, Kameraeinstellung, Vorspann erzeugen eine positive Erwartungshaltung oder eben nicht. Je länger der vor einem liegende Film ist, um so größer das Unbehagen, wenn der Anfang misslingt, beispielsweise durch eine minutenlange Standbildeinstellung oder, wahlweise, den verwackelten Blick durch eine Handkamera. Panahi hat sich für Ersteres entschieden.

Durch die vergitterten Fenster seiner Strandvilla sehen wir einen alten Mann, der ein Auto entlädt und sich dem Haus nähert. Im Haus angekommen, befreit er einen kleinen süßen Hund aus einer Reisetasche. Hunde gelten im Islam als unrein. Es gab im Iran immer wieder Bestrebungen, das Halten von Hunden zu verbieten. Die Einhaltung der Verordnung wird aber nicht konsequent umgesetzt. Dennoch versteckt der alte Mann sich und den Hund in dem Haus am Meer. Er schließt alle Vorhänge und raubt sich und uns für lange Zeit die Aussicht. Das Haus wird auch Zufluchtsort für eine junge Frau, die an einer verbotenen Party teilgenommen hat. Die Polizei versucht sich Zugang zum Haus zu verschaffen, das gelingt nicht. Am Morgen wird die junge Frau die Gardinen von den Fenstern reißen. Zu diesem Zeitpunkt hat sich die Niedlichkeit des kleinen Haustiers bereits abgenutzt. Gefangen im eigenen Haus, gefangen in der Heimat – angedeuteter Suizid, Klaustrophobie und Depression, die Versuche der künstlerischen Aufarbeitung der eigenen Geschichte bleiben oberflächlich und plakativ.

Dann betritt Jafar Panahi sein eigenes Set. Er wird nun als Film im Film seine Figuren bewegen, abgedrehte Szenen anschauen. Die Figuren beobachten ihn, er sieht sie aber nur in Sequenzen auf einem iPhone. Der Selbstbezug des Regisseurs mag menschlich verständlich sein, das Schreiben des Drehbuchs therapeutisch. Einen knapp 100 Minuten langen Film trägt das nicht. So bleibt es bei einem politisch wichtigen Signal und einer künstlerisch ermüdenden Versuchsanordung. Panahi packt seine Koffer und verlässt das Haus.

In der anschließenden Pressekonferenz war der Regisseur nicht anwesend.

 

Mother’s Little Helper

Steven Soderbergh ist gern gesehener Gast der Berlinale. Unter anderem prügelte 2012 Gina Carano als Agentin Mallory Kane in der Martial-Arts-Klamotte Haywire Channing Tatum, Michael Fassbender, Ewan McGregor und Antonio Banderas windelweich. Aggressive Frauen haben es dem Filmemacher angetan, und Channing Tatum darf in „Side Effects“  erneut das Opfer spielen.

Tatum gibt den gerade aus dem Gefängnis entlassenen Martin Taylor. Insidergeschäfte haben ihn hinter Gitter gebracht. Freudig erwarten ihn Mutter und Ehefrau Emily (Rooney Mara) am Gefängnistor. Dann ist Schluss mit lustig. Die Gattin wird depressiv und suizidal. Dr. Jonathan Banks (Jude Law) testet diverse Happy-Pills an ihr. Die haben ungeahnte Folgen. Wir ahnen nichts Gutes, als die zarte kleine Frau mit einem großen Messer mitten in der Nacht Gemüse schneidet. Gut, dass uns die lange Klinge mehrfach gezeigt wird und die Musik „Gefahr!!!“ signalisiert. Als der Schrank von einem Gatten ihr zart die Hand auf die Schulter legt, sticht sie ihn einfach ab. Schlimme Sache. An dieser Stelle kann man auch ungehemmt einfach „Ach Quatsch“ rufen. Emily kommt in Haft, kann sich an nichts erinnern. Die Tabletten und ihre Nebenwirkungen und der gutherzige Dr. Banks, dem von nun an übel mitgespielt wird, sind irgendwie mitverantwortlich.

Es kommt aber alles noch sehr viel mehr anders als erwartet. Dr. Victoria Siebert (Catherine Zeta-Jones), die ehemalige Psychiaterin von Klein-Emily, führt Übles im Schilde, und alles an dieser Frau insbesondere die große Designerplastikbrille schreit: Vorsicht: Bitch!

Was sind die vielen bunten Pillen gegen die fiese Heimtücke der Bestie Mensch? Mutmaßlich kein Bär, aber immerhin unterhaltsam. Das ist an einem Tag, wo die trübste Pille noch zu schlucken ist, schon einiges wert.

 

Die bitteren Tränen der Juliette B.

Juliette Binoche in dem französischen Spielfilm „Camille Claudel 1915“ (Foto: dpa)

Ein wohlmeinender Kollege hatte „Camille Claudel 1915“  von Bruno Dumont mit der ansonsten über jeden Zweifel erhabenen Juliette Binoche bereits am Vortag gesehen und eine Warnung ausgesprochen. Und versprach kariöse Zähne, Wahnsinn und Tränen. Dem Kollegen ist unbedingt zu trauen. Schlaf wäre auch hier eine Erlösung gewesen, oder das vorzeitige Verlassen des Kinos.

Das fettige Haar von Juliette Binoche in der ersten Szene des Films ist ein deutlicher Hinweis darauf, wo die Reise in den kommenden 97 Minuten hingehen soll. Camille Claudel (Binoche) wurde von ihrer Familie in eine psychiatrische Anstalt im Süden Frankreichs eingewiesen. Hier wartet sie, zwischen schwerstbehinderten Patienten, auf den Besuch ihres Bruders, der ihr für Samstag angekündigt wurde. Mahlzeiten bereitet sie sich selbst (eine Kartoffel, ein hart gekochtes Ei), da sie befürchtet, vergiftet zu werden. Die Beziehung zu Rodin hat sie auch 20 Jahre nach deren Ende nicht überwunden. Ihre Tage verbringt sie mit Gebeten, dem Schreiben von Briefen und Weinen.

Die Kamera verweilt vorzugsweise auf dem Gesicht der großen leidenden Binoche oder den verwitterten Gebissen der anderen Heimbewohner, gespielt von geistig behinderten Laiendarstellern. Deren Schreie und Gelächter begleiten die verzweifelte Künstlerin durch das kalte Gemäuer. In der besten Szene des Films sehen wir die Theatergruppe der Anstalt bei einer Probe. Hier zeigt der Filmemacher was mit diesen Darstellern in einer Dokumentation möglich gewesen wäre. So bleibt ihnen authentisch wahnhaftes Kreischen und Sabbern. Bruder Paul, ein verbissener Katholik, sucht auf dem Weg zur Schwester immer wieder sein Heil im Gebet und in selbstverliebten Monologen über sein Gottesbild. Die Begegnung wird für Camille zur bitteren Enttäuschung. Ein Film, wie ein einziger großer Bußgang, den man gerne früher auf Knien verlassen hätte. Möge es nützen!

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