Berlinale 2016 – Boys don’t cry

Liebe, Tod und ein Coming Out – Tag der Schmerzensmänner im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele in Berlin.

Liebe in den Zeiten des Krieges

Angola 1971, die aufstrebende Unabhängigkeitsbewegung wird von der Kolonialmacht Portugal mit kriegerischen Mitteln bekämpft. Im Gegensatz zu anderen europäische Nationen in den 1950er und 1960er Jahren war das damalige portugiesische Regime nicht bereit, seine afrikanischen Kolonien aufzugeben. In „Cartas da guerra“ (Letters from War) von Ivo M. Ferreira sehen wir den Krieg mit den Augen des jungen Militärarztes António (Miguel Nunes), der sehnsüchtige Briefe an seine schwangere Frau in die Heimat schickt.

Während die Soldaten sich im Camp einrichten, wandelt die Gattin durch die neue großbürgerliche Wohnung, die es kurz vor der Niederkunft noch einzurichten gilt. Sehnsüchtig werden die Worte des leidenden Gatten von einer weiblichen Stimme vorgelesen. Die Monotonie schmachtend vorgetragener Liebesschwüre mischt sich mit der Eintönigkeit des Lagerlebens. Schwitzende Männerleiber, spritzendes Blut nach ersten Kampfhandlungen in flackerndem Licht schwarz-weiß in Szene gesetzt. Jämmerliches Verrecken in Zeiten des Krieges kann so schön sein. Herr Doktor ist ein großer melancholischer Leidender, mit dem langen Deckhaar eines sensiblen Intellektuellen. Dazu fiedeln traurige Streicher und ein Pianoforte klimpert Salonmusik.

Das Licht der Petroleumlampe lädt zum ausgiebigen Studium des edlen Profils ein. Dazu säuselt die geschwätzige Briefevorleserin Sehnsuchtsworte. Blutende Kameraden und sterbende Eingeborene  – da schmeckt die Zigarette nach der Versorgung von Minenopfern zwischen den sinnlichen Lippen besonders gut. Tiernamen, Naturmetaphern, anatomische Beschreibungen – erregt legt die schöne Daheimgebliebene in den kühlen Laken Hand an sich, um sich Erleichterung zu verschaffen. Der Höhepunkt – den nur noch eine Auflistung von Straßennnamen und ein Auszug aus dem Telefonbuch hätte steigern können, ist eine Erleichterung für alle. Ein Film für die letzten Romantiker. Bär für eine besondere künstlerische Einzelleistung ist in solchen Fällen nie auszuschließen.

Wie würden Sie entscheiden?

Was würdest du tun, wenn dein ungeborenes Kind behindert und schwer krank zur Welt kommen würde? Abbruch oder austragen? Die Leipziger Kabarettistin Astrid (Julia Jentsch) muss sich in „24 Wochen“ (24 Weeks) von Anne Zohra Berrached, dem ersten deutschen Beitrag im Wettbewerb der 66. Berlinale, dieser Frage stellen. Im vierten Monat erfahren sie und ihr Freund und Manager Markus (Bjarne Mädel), dass ihr zweites Kind das Down-Syndrom hat. Die zweite Hiobsbotschaft folgt kurze Zeit später. Der ungeborene Junge leidet unter einem schweren Herzfehler.

Der Optimismus der werdenden Eltern, insbesondere von Astrid, schwindet. Was bedeutet die Entscheidung für ein schwer krankes Kind? Kann und will sie damit leben? Schafft sie das? Hält die Familie das aus? Ist der mögliche Spätabbruch eine Alternative? Kann sie eine Entscheidung über Leben und Tod treffen?

Weder die Rolle der erfolgreichen Kabarettistin noch die der werdenden Mutter in existentiellen Nöten kann Julia Jentsch ausfüllen. Das Spiel des schweren persönlichen und familiären Konflikts bleibt über weite Strecken statisch und hölzern. Glaubwürdig ist „24 Wochen“ immer dann, wenn medizinisches Personal Befunde und mögliche Eingriffe erklärt, Risiken erläutert, Alternativen beschreibt. Eine Hebamme wird Astrid durch den Abbruch begleiten, Ärzte bereiten sie vor. Kamera und Spiel nehmen dokumentarische Züge an. Mediziner übernehmen die Handlung, wir stehen am Rande. Nahezu in Echtzeit durchleiden wir mit den verwaisten Eltern den Tod des Kindes und die anschließende Geburt. In der Stunde des Abschieds gelingt ein Moment ergreifender Intimität und Nähe.

Sie waren 17 – zum ersten Mal im Leben

Den vierten Wettbewerbstag der 66. Berlinale beschließt ein weiterer wunderbarer Darstellerfilm aus Frankreich. Sandrine Kiberlain („Les femmes du 6ème étage“), Kacey Mottet Klein („L’enfant d’en haut“) und Corentin Fila spielen in André Téchinés Comming of Age-Film „Quand on a 17 ans“ (Being 17) groß auf.

Damien (Kacey Mottet Klein) und Thomas (Corentin Fila) sind sich in herzlicher gegenseitiger Abneigung zugetan. Wo es geht, stellen sie sich wortwörtlich ein Bein oder hauen sich gegenseitig in die Fresse. Als Thomas‘ Mutter ins Krankenhaus muss, lädt Damiens Mutter (Kiberlain) den vermeintlichen Erzfeind des Sohnes ein, für einige Zeit den elterlichen Bergbauernhof zu verlassen und bei Mutter und Sohn zu wohnen. Aus Rauferei wird Zuneigung und in der Stunde der Not stehen beide Damiens Mutter bei. Ein Film für Bergwanderer, angehende Milchbauern und Eisbader.